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Maos Rakete

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Überraschenderweise hat die Nachricht, daß es China gelungen ist, eine Mittelstreckenrakete zu bauen und mit einem Atombombenkopf abzufeuern, in der westlichen Welt nicht — oder jedenfalls noch nicht — die Beachtung gefunden, die sie verdient. Jedenfalls schien die westliche Reaktion darauf nicht von der Überzeugung geleitet zu sein, daß es sich da um ein revolutionäres Ereignis handeln könnte, vergleichbar etwa der ersten A- und H-Bombe der Sowjets. Und doch hat dieses chinesische Raketenexperiment ein neues, entscheidend wichtiges Moment in die Weltpolitik gebracht.

Die chinesische Rakete ist sehr wahrscheinlich eine sogenannte Mittelstreckenrakete mit einer Reich-, weite um die 1000 km. Die Atombombe, die sie, mitführt, mag als „Spielzeug“ gelten, wenn man sie mit den Superbomben der Amerikaner und Sowjets vergleicht, aber man muß da vorsichtig sein mit Wertungen, denn dieses „Spielzeug“ dürfte doch etwa die Zerstörungsgewalt der Hiroshima-Bombe haben. Schließlich schätzte der amerikanische Kernphysiker Ralph Lapp, die Chinesen würden im kommenden Jahr etwa 100 dieser Mittelstreckenraketen produzieren können. Wie lange sie benötigen werden, um auch Interkontinentalraketen zu bauen, mit denen sie Atombomben bis nach Amerika hineintragen könnten, soll uns hier nicht beschäftigen. Nach amerikanischen Schätzungen dürften sie dafür nur noch wenige Jahre benötigen.

Maos Rakete dürfte nun insofern eine erste, ganz entscheidende Wirkung auf die Weltpolitik ausüben, als sie einen amerikanischen „Präventivangriff“ auf China — oder auch „nur“ auf die chinesischen Atombombenfabriken — so sehr erschwert, daß ein solcher nun höchst unwahrscheinlich geworden ist. Bekanntlich gibt es im Pentagon seit langem Kreise, die der Ansicht sind, Amerika müsse die chinesischen Atombombenfabriken zerstören, bevor es China gelingen könne, eine eigene ernst zu nehmende Atommacht aufzubauen. Diese Kreise sind zwar bei den Politikern im State Department und bei Präsident Johnson nicht durchgedrungen, aber ihr Einfluß war jedenfalls auch nicht zu baga- tellisieręn. Nun wäre ein solches Unternehmen vor dem Start von Maos Rakete ein für Amerika insofern relativ gefahrloses Unternehmen gewesen, als China sich ja kaum hätte wehren können. Gewiß hätte es seine Riesenarmee in Bewegung setzen und ganz Asien in einen Landkrieg stürzen können, der die USA noch unvergleichlich mehr als bisher militärisch in Asien engagiert hätte. Aber Amerika selbst hätte China nicht gefährlich werden können.

Das aber hat sich nun durch Maos Rakete entscheidend geändert. Wenn Amerika heute die chinesischen Atombombenfabriken angreifen würde, dann könnte China sehr wahrscheinlich schon heute — sicher aber in wenigen Monaten — mit

Hilfe seiner Mittelstreckenraketen als Antwort chinesische Atombomben auf die amerikanischen Truppen- und Waffenlager von Korea bis Vietnam abschießen. Das heißt: Amerika müßte damit rechnen, einen Angriff auf China mit dem Verlust eines Großteils seiner mehrere hunderttausend Mann starken Truppen in Südostasien bezahlen zu müssen. Diese Verantwortung wird ein amerikanischer Präsident kaum übernehmen wollen oder können. (Ganz abgesehen von der weiteren Entwicklung eines solchen Krieges.) Deshalb hat Maos Rakete die Wahrscheinlichkeit eines amerikanischen „Präventivangriffs“ auf China auf ein Minimum heruntergedrückt. Auch in Asien spielt sich also nun das berühmte „Gleichgewicht des Schrek- kens“ ein und insofern hat Maos Rakete zunächst einmal eine stabilisierende Wirkung.

Aber dieser Rakete kommt noch eine weitere entscheidende Bedeutung zu. Um was es sich dabei handelt, erkennt man, wenn man die erste Reaktion Präsident Johnsons auf die „Raketennachricht“ genauer studiert. Johnson, der sich damals auf seiner Asienblitztour befand, sagte in Kuala Lumpur: „Die Führer Chinas müssen sich bewußt sein, daß jede von ihnen entwickelte nukleare Potenz abgeschreckt werden kann und abgeschreckt wird.“ Er fügte hinzu, die Entwicklung von Atomwaffen bedeute für China selbst eine Gefahr. Schließlich — und das ist vielleicht das Wichtigste — erklärte er, jede Nation, die nicht über Atomwaffen verfüge, könne mit starkem amerikanischem Beistand rechnen, wenn sie von einer Atommacht der „Drohung mit einer nuklearen Erpressung“ ausgesetzt werde.

In diesen Äußerungen Johnsons ist zunächst einmal eine eindeutige Drohung an die Adresse Chinas enthalten, an deren Sinn die Leitartikler der Weltpresse bisher vergeblich herumrätselten. Wie will Johnson — falls dies der Sinn dieser Drohung sein sollte — China „abschrecken“, seine Nuklearmacht weiter auszubauen? Doch wie dem auch sei, entscheidend ist Johnsons Beistandsversprechen an jene Staaten, die von einer Atommacht — gemeint ist natürlich China — mit einer nuklearen Erpressung bedroht würden. Das bedeutet, daß Johnson die USA noch weit entschiedener in Asien zu engagieren beabsichtigt, als dies unter seiner Präsidentschaft ohnehin schon geschah. Damit ist erstens die Aussicht auf einen Kompromißfrieden in Vietnam zusätzlich erheblich verschlechtert worden. Wenn Johnson es mit seinen Worten ernst gemeint hat — und alles spricht dafür —, wird er die amerikanischen Truppen in absehbarer Zeit nicht aus Vietnam zurückziehen, was immer die Gegenseite an Kompromissen anbieten würde. (Falls diese Gegenseite überhaupt zu Kompromissen bereit ist, was vorläufig zumindest fraglich ist.) Denn jedermann weiß, daß Südvietnam nach einem Abzug der Amerikaner innerhalb kurzer Zeit kommunistisch würde, kontrolliert der Vietkong doch nach wie vor einen beträchtlichen Teil des Landes.

Da aber der Vietnamkrieg für die Amerikaner anderseits nicht zu gewinnen ist — kein Krieg in einem Dschungelgebiet ist zu gewinnen, wenn große Teile der Bevölkerung mit den Guerillas sympathisieren —, bedeutet das, daß Amerika auf unabsehbare Zeit militärisch in Asien engagiert blieben wird. Was für Folgen das haben wird, kann niemand Voraussagen. Vor allem auch deshalb, weil die weltpolitische Bedeutung von Maos Rakete offenbar noch nicht ins Bewußtsein der westlichen Welt gedrungen ist. Möglicherweise braucht es dazu noch der Meldung, China habe seine erste Interkontinentalrakete abgefeuert. Wird man lange auf diese Meldung warten müssen?

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