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Orwell bleibt Ostasien fremd

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.JCennen Sie George Orwell und sein Buch ,1984'?" Die Antwort auf diese Frage war bis kurz vor Jahreswechsel bei den meisten befragten Japanern „Nein". Das Orwellsche Omen, das dieser Jahreszahl in Europa und Amerika anhaftet, existiert im Fernen Osten nicht.

Erst in den letzten beiden Wochen des vergangenen Jahres brachten die stets um neue Geschäftsideen nicht verlegenen japanischen Verlage Orwells ominöses Opus in bunt und grell kaschierten Taschenbuchausgaben heraus, ähnlich aufgemacht wie die Reklame für den demnächst anlaufenden Film „The Day After".

Ist 1984 für Ostasien wirklich ein Jahr wie jedes andere? Alleine in Japan haben Entwicklungen im letzten Jahr zum Teil rasante Formen angenommen. Der überaus imagebewußte und an der Außenpolitik besonders interessierte Premier Yasuhiro Nakasone hat durch eine wahre Welle an Gipfeltreffen die internationale Rolle des japanischen Wirtschaftsgiganten, der jedoch politisch nach wie vor eher bescheiden wirkt, auf der Bühne internationaler Politik gestärkt.

Allein im letzten November besuchten Helmuth Kohl, Ronald Reagan und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Yaobang, Tokio und kehrten meist begeistert in ihre jewei-

Die Düsternis der Welt von George Orwells Roman ,,1984" steht in krassem Gegensatz zur Realität Ostasiens. Kein Wunder dann, daß man das Buch nicht unbedingt kennt und Neujahr wie eh und je gefeiert hat: mit viel Lärm und Alkohol.lige Heimat und zu ihren Problemen zurück.

Von den drei Besuchen war wohl jener des chinesischen Politikers der wichtigste, wenngleich die Show und die Propaganda beim Reagan-Besuch wahre Pirouetten schlug. Hu Yaobangs Visite bekräftigte die ohnedies bereits enge Zweckfreundschaft zwischen den beiden Nachbarn, dem Wirtschafts- und dem Bevölkerungsgiganten.

Und dieser Besuch hatte auch nicht zuletzt für die beiden verfeindeten Brüder zwischen China und Japan Konsequenzen: Süd-und Nordkorea standen und stehen einander haßerfüllter denn je gegenüber.

Seit dem mörderischen und be-wiesenermaßen von Nordkorea organisierten Bombenanschlag in Rangun, bei dem unter anderen vier südkoreanische Minister den Tod fanden, ist die Lage auf der Halbinsel angespannter als allen Nachbarn lieb ist. Ronald Reagans Blitzbesuch in der demilitarisierten Zone zwischen den beiden Staaten überzeugte zwar den Süden von Amerikas Willen, weiterhin die Beschützerrolle zu übernehmen, half aber nicht sonderlich bei der Beruhigung der Lage.

Trotz aller Wirren und politischer Dramen — etwa die Ermordung des philippinischen Oppositionspolitikers Benigno Aquino — macht sich eine immer stärker werdende Grundtendenz bemerkbar: auch die kleineren und noch im Entwicklungsstadium befindlichen Nationen Ostasiens steuern einen selbstbewußteren, unabhängigeren Kurs.

Ein ölreicher Ministaat hat auch mit erstem Jänner die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt und ist sofort das sechste Mitglied der ASEAN-Staatengruppe geworden: Brunei auf Nordborneo. Dieser Wandel ist symbolisch für die stärker werdende Selbstsicherheit und Entschlossenheit vieler asiatischer Nationen.

Die beiden Supermächte, die einander im Nordpazifik mit wahrlich gewaltigen Arsenalen gegenüberstehen, hatten bis vor kurzem noch leichteres Spiel in Asien. Nun aber wird es immer schwieriger, sich die bedingungslose Gastfreundschaft verschiedener Wirtländer für die Aufstellung von Kriegsgerät zu sichern.

Japan zögert nach wie vor, seine Rüstung stark voranzutreiben; die Philippinen sind für die dort befindlichen US-Stützpunkte ein unruhiger Boden geworden. US-Truppen in Südkorea sind an das Land gebunden, bedingt durch die akute Kriegsgefahr vor allem seit den tragischen Ereignissen im letzten Herbst.

Die Sowjetunion, die außer ihren gigantischen Stützpunkten in Ostsibirien noch über die Hafenanlagen in Cam Ranh Bay in Vietnam verfügt, ist zwar nach wie vor Entscheidungsherr über die Regierung in Hanoi, doch machen sich in letzter Zeit Anzeichen bemerkbar, daß Vietnam gerne wieder mehr Kontakt zum Westen und auf diese Weise größere Unabhängigkeit von der UdSSR erlangen möchte. Die russisch-chinesischen Annäherungsversuche spielen da auch eine wichtige Rolle.

Potentielle Krisenherde gibt es nac-h wie vor genug. Wie der Abschuß der koreanischen Passagiermaschine gezeigt hat, ist die Pattstellung zwischen den beiden Supermächten im Nordpazifik eines der größten Pulverfässer der Region. Doch auch regionale Wirren und vor allem wirtschaftliche Notlagen — wie in den Philippinen — könnten zu ernsten Schwierigkeiten für die fernöstliche Weltgegend führen.

Der nach wie vor ungelöste Konflikt in Indochina dürfte auch heuer entscheidender Unsicher-heitsfaktor bleiben.

Die Volksrepublik China, deren Innenpolitik nach wie vor Schwankungen ausgesetzt ist, (die Parteisäuberung geht weiter) wird dennoch zusehends zu einem Stabilisierungsfaktor für Ostasien. Pekings Politik des gleichen Abstands zu den beiden Supermächten macht dabei viel aus.

Wirtschaftlich haben die meisten Länder aufgeatmet. Die USA, Hauptabnehmer und vor allem nach wie vor finanzkräftigster Käufer asiatischer Produkte, scheinen die schlimmste Zeit der Rezession überstanden zu haben, was nicht zuletzt die Lieferanten in Ostasien freut. Japan erwartet für heuer ein Wirtschaftswachstum von 4,2 Prozent.

Das Jahr der Ratte bringt im allgemeinen Glück, zumindest nach altem Brauch. Diese Uberzeugung kann auch ein George Orwell nicht umstoßen.

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