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Rußland und China

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Von den politischen und kulturellen Beziehungen der asiatischen und der in Asien aktiven Großmächte sind, schon mit Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung im Fernen und Mittleren Osten, die der beiden Großstaaten hinter dem Eisernen Vorhang, Rußland und China, wohl die wichtigsten; zusammen mit den Zielsetzungen des indischen Riesens, hinter denen für uns im Westen nur zu oft ein großes Fragezeichen steht, bilden sie das Hauptmoment jeglicher Entwicklung auf diesem Kontinent. Um diese Beziehungen mit allen ihren Imponderabilien und ihren Auswirkungen auf die ganze Welt verstehen zu können, ist ein Rückblick auf ihre geschichtliche Entwicklung am Platze.

Rußland, dessen Machtkern während seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung als moderner Staat in seinem europäischen Gebietsteil gelegen ist, stieß erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts über den Ural nach Asien vor, um sich dann in einem fast ununterbrochenen, zum Teil friedlichen, zum Teil auch kriegerischen Vorwärtsdringen seiner Jäger und Siedler den ganzen nördlichen Teil dieses großen Kontinents anzueignen. Im Gegensatz zu den auf ganz anderen geographischen und ethnologischen Voraussetzungen beruhenden und oft sehr dicht bevölkerten Tropenkolonien der seefahrenden Großmächte handelte es sich hier im Norden um auch heute noch vielfach äußerst dünn bevölkerte Gebiete, die, nach ihrer Besitznahme lange vernachlässigt, erst in den letzten Jahrzehnten mit dem europäischen Kernland des russischen Reiches durch die breite Schweißnaht des nunmehr so wirtschaftsdicht gewordenen Uralbandes zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschmelzen. Es ist natürlich, daß dieser Prozeß der So- wjetära mit ihrer straffen zentralen Wirtschaftspolitik beschleunigt wird.

China, das uralte „Reich der Mitte“, hat im Verlauf der letzten Jahrtausende seiner Geschichte den Kernsitz seiner politischen und kulturellen Machtentfaltung in den Flußtälern des Hoanghos und Jangtsekiangs im großen und ganzen beibehalten und hierzu, je nach seinen machtpolitischen Möglichkeiten mehr oder weniger große „biologische“ Ueberflutungsgcbiete als jeweilige Randprovinzen dem Reiche untertan zu machen und in einigen Fällen auch gänzlich zu assimilieren verstanden.

In den fernöstlichen Grenzzonen dieser Randgebiete war es auch, daß sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Siedlungsvorhuten der beiden Völker trafen. Nach Süden vordringende russische Jäger trafen damals im Gebiet nördlich des Amurs auf vorgeschobene chinesische Siedlungen. Die Russen waren bereits zur Jahrhundertwende über Westsibirien hinaus nach Osten vorgedrungen, hatten 1628 die Lena, elf Jahre später die, Küste des Ochotskischen Meeres erreicht und drangen dann allmählich nach Süden vor. 1643 segelten sie bereits den Amur hinunter, und wenige Jahre darauf sehen wir bereits längs des ganzen Stromlaufes russische Jägerstationen und Siedlungen neben den chinesischen Bauernsiedlungen, und es ist nur natürlich, daß es alsbald zu Reibungen und Streit zwischen den russischen Neuankömmlingen und den chinesischen Kolonisten kommen mußte. Diese Zwistigkeiten wurden dann in den Jahren 1657 und 1660 durch Vereinbarungen mit dem Pekinger Hof bereinigt; die Russen bekamen das Recht auf Niederlassungen im Amurgebiet nördlich des Flusses von China anerkannt. Tn zwei weiteren Verträgen, 1689 und 1727, wurden gegen den Verzicht der Russen auf jedes weitere Vordringen nach Süden alle Fragen des gegenseitigen Handelsverkehrs geregelt und genaue Regeln für diesen Verkehr festgelegt. Damit war im Fernen Osten den Russen der erste Riegel vorgesetzt.

In den folgenden zwei Jahrhunderten stießen die Russen ihre Keile in anderen Richtungen vor, besetzten das ganze nördliche Sibirien bis an die Eismeerküste, hatten ihr amerikanisches „Abenteuer“, das sie bis nach Kalifornien hinunter führte, im Jahre 1867 aber ein „kommerzielles“ Ende fand, und arbeiteten sich auch in Mittelasien allmählich an die dortigen chinesischen Machtgrenzen heran, die vor Kuldscha (Ihli) und Kaschgar in Sicht kamen. Bald fanden sie auch im westlichen Süden, noch viele hundert Kilometer vor der ersehnten Küste des Indischen

Ozeans, an den Grenzen Afghanistans und Persiens, ein von den Großmächten Europas zugerufenes, unüberschreitbares Halt.

Bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts hielt inzwischen im großen und ganzen der fernöstliche Riegel, und erst vor ungefähr hundert Jahren, als China an anderen Stellen von den europäischen Großmächten sehr bedrängt war, wurde auch die russische Politik im Fernen Osten wieder agiler, wuchs der russische Druck nach Süden. 1858 konnte Rußland im Vertrag von Aigun die endgültige chinesische Anerkennung seiner unbeschränkten Souveränitätsrechte über das nördlich des Amur gelegene Gebiet, zwei Jahre später im Vertrag von Peking die seiner Rechte über das östlich des Ussuri- flusses gelegene Küstengebiet erreichen; unmittelbar darauf begann der Ausbau des Hafens und Flottenstützpunktes 'Wladiwostok. Die Hoffnungen, die man sich in Petersburg damals über diesen neuen russischen Hafen am Stillen Ozean gemacht hatte, erfüllten sich dann doch nur zum Teil. Trotz seiner gegenüber dem sibirischen Hauptland vorgeschobenen südlichen Lage blieb dieser neue Hafen infolge der dortigen, vorwiegend kalten Meeresströmungen durch einige Monate des Jahres hindurch eisblockiert, und erst in allerjüngster Zeit gelang es den Sowjets, durch kostspielige technische Vorkehrungen diesem für einen Flottenstützpunkt untragbaren Uebelstand soweit abzuhelfen, daß unter normalen Verhältnissen ein fast ganzjähriger Hafenbetrieb gewährleistet erscheint. Damals aber war die Enttäuschung sehr groß. Dazu kam noch, daß der Hafen durch die Nähe der mandschurischen Grenze kein militärisch gesichertes Hinterland besaß. Mit dieser Erkenntnis waren die Zielsetzungen jeder weiteren russischen Fernostpolitik schon gegeben: einerseits das Streben nach einem gänzlich eisfreien Hafen noch weitem im Süden, anderseits die kürzeste Landverbindung Wladiwostoks beziehungsweise des noch zu erreichenden neuen Südhafens mit dem sibirischen Hauptland alsbald in eigene Hände zu bekommen, zumindest abe? diese Brückengebiete als unangefochtene russische Einflußzone anerkannt zu erhalten. In der Hafenfrage richteten sich die russischen

Blicke nach einigem Schwanken auf den gut gegliederten Küstenteil bei Wön-san in Ostkorea und dann vor allem auf den strategisch sehr günstig gelegenen Hafen von Lüschun- kou (nachmals Port Arthur) im Süden der Liaotunghalbinsel in der Südmandschurei. Korea und Mandschurei sind also bei diesen Zielsetzungen primär tangiert, bei beiden aber, angesichts der Machtverhältnisse in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Macht- und Einflußzonen Pekings, das aber allein dieser neuen aggressiven Politik des Zarenreiches auf die Dauer keinen Einhalt hätte bieten können. Da erwuchs dem vor- Tdrängenden Rußland im Fernen Osten ein neuer Gegner, der aus ureigenstem Interesse diese russische Expansionsbestrebungen zu durchkreuzen bestrebt sein mußte.

Es war das neue Japan, das 1867 die Feudalherrschaft der Schogune abgeschüttelt hatte und in stürmischer Entwicklung innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer militärischen Großmacht heranwuchs. In dem natürlichen Bestreben, das biologisch bedingte Ueberquellen des engen japanischen Inselrahmens in eine für Japan machtpolitisch günstige Richtung zu lenken, mußte diese neue Großmacht in dem vor seinen Toren liegenden Korea und in der Mandschurei mit Rußland kollidieren. Zunächst wurde China 1895 an die Wand gedrückt. Aber Rußland, das seine Fernostinteressen durch diesen japanischen Sieg über China aufs schwerste gefährdet sah, wußte mit diplomatischer Unterstützung Frankreichs und Deutschlands Japan um die Frucht seines Sieges zu bringen und damit schwer zu demütigen; gleichzeitig nahm seine eigene Aktivität im Fernen Osten weiter zu. 1895 erwirkte es in Peking die Zustimmung zum Bau einer abgekürzten Trasse seiner bereits 1891 begonnenen Transsibirischen Bahnlinie über mandschurisches Territorium, zwei Jahre später besetzte es seinerzeit die Liaotunghalbinsel mit Port Arthur und Dairen, die es dann für 25 Jahre gepachtet erhielt, und bekam auch von Peking das Monopolrecht für Eisenbahnbauten in der Mandschurei zugesprochen; ebenso wuchs in Korea sein Einfluß.

Es stieg aber auch der Haß des gedemütig- ten Japans und der des ohnmächtigen

Chinas. Wohl konnte Rußlands überhöhter Einfluß in der Mandschurei — der chinesische Boxeraufstand war der Anlaß für noch größere russische Kontrollrechte gewesen — mit Hilfe Englands, das insgeheim bereits für Schanghai zu fürchten begann, etwas zurückgedämmt werden, aber erst der Sieg Japans 1905 über den russischen Riesen brachte die Wende und damit den zweiten Riegel, der — diesmal von Japan — dem russischen Vordringen im Fernen Osten vorgeschoben wurde; diesmal hielt der Riegel nur 40 Jahre lang, bis zum Ende des zweiten Weltkrieges.

In diesen 40 Jahren erfuhren aber die Machtverhältnisse in Ostasien eine gewaltige Aenderung. In China wurde 1912 die Republik ausgerufen, fünf Jahre später stürzte im Wogen des ersten Weltkrieges der russische Zarenthron, schwang sich Hammer und Sichel zur Herrschaft empor, trat Japan im Osten in die Fußstapfen des alten Rußlands und wurde seinerseits zum verhaßtesten Eindringling im chinesischen Volksraum, der die Erinnerung an den alten Feind im Norden verblassen ließ. Es hatte schon 1910 Korea annektiert, am Ende des ersten Weltkrieges mit anderen Mächten zusammen große Teile Sibiriens besetzt und in China ein Vorrecht nach dem anderen erpreßt. Im Jahre 1932 wußte Japan sogar die ganze Mandschurei aus dem chinesischen Staatsverband herauszureißen und mit einigen nordchinesischen Gebietsteilen zusammen zu einem japanischen Satellitenstaat umzugestalten; damit war es aber noch nicht genug, und es dauerte nicht Zu lange und Japan griff auf Mittelchina über und eröffnete den offenen Kampf mit der chinesischen Republik; doch auch hier trat alsbald die Wende ein: wohl besetzte Japan zunächst große Teile Chinas, konnte aber das Reich nicht vollkommen niederringen und scheiterte schließlich an der Größe des chinesischen Raumes, zumal China dann von den westlichen Alliierten während des zweiten Weltkrieges unterstützt wurde, Japan aber auf dem Höhepunkt seiner politischen Verblendung und Ueberschätzung des eigenen Machtpotentials sich ein zweites Port Arthur leistete und nach Pearl Harbour ging, um die Kriegsfackel im ganzen Pazifik zu entzünden.

1945 kam dann das bittere Ende dieses japanischen Weltmachttraumes. Die Stunde Rußlands war wieder gekommen. E. S.

(Ein weiterer Aufsatz folgt)

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