6613311-1955_15_06.jpg
Digital In Arbeit

Unendlich und rtselhaft: Sibirien

Werbung
Werbung
Werbung

Kürzlich hat der erste Sekretär der Kommuni-itischen Partei der Sowjetunion Nikita Chru-chtschew vor einer großen Versammlung russischer Jungkommunisten eine Rede gehalten, in der er die Jugend der Sowjetunion zur Rückkehr zur Landwirtschaft überreden wollte. Es handelt sich im wesentlichen um eine Liebersiedlung nach Sibirien. Etwa 35 Millionen Hektar jungfräulichen Bodens sollen urbar gedacht werden, um die Ernährung der Sowjetunion zu sichern. Dieser neue Getreideboden soll in Kasachstan am Altai und im übrigen Sibirien landwirtschaftlich besiedelt werden. Bei Kasachstan handelt es sich um West-Kasachstan, das geographisch zu Sibirien gehört und auch administrativ bis vor zwanzig Jahren ein Teil Sibiriens war. Dieses neue Projekt einer noch nie dagewesenen massiven Besiedlung Sibiriens rückt diesen riesigen Teil Sowjetisch-Asiens in den Mittelpunkt des Interesses. Was in Sibirien geschieht, diesem Lande von der Größe eines Kontinents zwischen Europa und dem kommunistischen Asien, das berührt das Schicksal eines jeden einzelnen in der Welt.

Semjonow, der in Stockholm lebende Autor, bekannt .als Sibirienkenner, konnte daher keinen besseren Zeitpunkt für das Erscheinen seines neuen Buches wählen. (Sibirien, Eroberung und Erschließung der wirtschaftlichen Schatzkammer des Ostens. Von Juri Semjonow, Verlag Ullstein, Berlin, 467 Seiten.) Semjonow hat bereits früher ein Werk über Sibirien veröffentlicht, und zwar die Geschichte Sibiriens. Das vorliegende Werk sollte eine Neuauflage des früheren sein. Doch dieses frühere Buch schloß mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ab. In seinem neuen Werk schildert er das Schicksal Sibiriens bis in unsere Tage, schildert den spannenden diplomatischen und militärischen Kampf des Fernen Ostens Ende des vorigen und Anfang des laufenden Jahrhunderts, den Bürgerkrieg 1917 bis 1922 und die Entwicklung in der Sowjetzeit. Dieses Werk ist faszinierend. Es liest sich trotz seiner Exaktheit wie ein spannender Roman. Semjonow versteht es, die handelnden Personen der sibirischen Geschichte plastisch vor Augen zu führen. Wir sehen sie vor uns, erfassen ihr Wesen, erkennen ihre Gedankenwelt. Die abenteuerlichen Eroberer und eigentlich berufsmäßigen Räuber der ersten Zeit, die starken, phantasiercichen königlichen Kaufleute der späteren, die Geschichte machenden Gouverneure der Neuzeit. Eine Fülle von Ideen gebiert das Land Sibirien, abenteuerliche und realistische, verwirklichte und solche, an denen ihre Schöpfer und deren Nachfolger zugrunde gingen. Der unendliche Reigen von Menschen •Her Art, die dieses Sibirien erobern und erschließen, diese unendliche Reihe von Bauern, Kaufleuten, Generälen, Gouverneuren, Beamten, Offizieren, Seeleuten und Wissenschaftlern zieht an unseren Augen vorbei. Und zuletzt kommt dann noch der Techniker, der schließlich den größten Teil der alten Projekte löst, um die sich so viele vergebens bemüht haben, um die so viele gestorben sind. Es zeigt uns auch die russische Regierungspolitik im Wandel der Zeiten. Wie die Regierungen in Moskau und später in Petersburg nur sehr zaghaft den Abenteurern und genialen Projekteschmieden folgten, wie sie zuerst nur darum nach Sibirien gingen, weil sie glaubten, ohne jedes Risiko die damalige „Valuta“, wie Semjonow es nennt, das kostbare Pelzwerk, zu erhalten. Fiskalische Interessen waren es vor allem welche die russischen Regierungen veranlaßten, immer tiefer nach Sibirien hineinzugehen, zuerst um Pelzwerk, dann auch um Erze und Gold. Am Anfang stehen die bizarren Gestalten der Kaufleute Stroganow, die im russischen Norden zwei Jahrhunderte in einem großen Holzhaus wohnten, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der geniale Mulawjew, der Generalgouverneur, europäisch gebildet, der zu Hause nur französisch spricht und der doch klar erkennt, was das russische Imperium braucht. Ein Mann, gleichwertig dem großen englischen Imperiumarchitekten, der es versteht, immer wieder seine Regierung vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Und schließlich noch der gegen die furchtsame und gleichgültige eigene Regierung das Amurgebiet zu russischem Besitz macht und endlich auch Anerkennung erntet. Trotz des Auf und Ab der russischen Regierungspolitik, trotz der Rückschläge ist es, als ob alles einem ehernen Gesetz folgte. Für Semjonow setzen die Sowjets nur das fort und vollenden es, was bereits vor Jahrhunderten begonnen wurde. In Semjonows Schilderung Sibiriens und seiner Geschichte liegt etwas Mystisches, mit rationellem Denken nicht Erfaßbares. Und so schildert er uns Sibirien selbst. Unendlich und rätselhaft, düster, hart, voller Tragödien, und doch liebenswert, fesselnd, ja beinahe heiter. So sieht er auch den Untergang des letzten Zaren und seiner Familie. Wie die Vollendung eines mystischen, unfaßbaren Prozesses: An der Schwelle Sibiriens stirbt der Zar eines furchtbaren Todes, an der Schwelle jenes Landes, in dem für die Zaren eine unendliche Zahl dieser Untertanen starben.

Fesselnd ist auch seine Schilderung des Verhältnisses der Russen zu den Asiaten und insbesondere zu den Chinesen. Die klügsten und weitsichtigsten russischen Diplomaten und Staatsmänner sahen das Fehlerhafte und Gefährliche der westlichen Kolonialpolitik in China und eine enge russisch-chinesische Freundschaft als einzige Politik, welche die Zukunft Rußlands sichern könne. Auch hier sieht er in der Sowjetrepublik nur die Fortsetzung der Politik dieser Männer, als letzten von ihnen den Grafen Witte während des Russisch-japanischen Krieges. Semjonow befleißigt sich der strengsten Objektivität, und doch kommt manchmal der Russe zum Vorschein, wenn er mit bestechender Logik nachzuweisen versucht, daß die europäischen Mächte durch das Versagen ihrer eigenen Politik vorzeitig ihre asiatischen Besitztümer verlieren. Vor allem England. Im japanisch-englischen Bündnis, in der Inspirierung des Russischjapanischen Krieges sieht Semjonow den eigentlichen Grund des Verlustes Indiens für England. Wir glauben, daß die russische weltrevolutionäre Politik in Asien mehr dazu beigetragen hat. Uebrigens, im Russisch-japanischen Krieg sieht Semjonow den ersten Weltkrieg,einen Krieg der englisch-amerikanischen Koalition gegen Rußland. Leider widmet Semjonow dem Bürgerkrieg in Sibirien nur wenige Seiten. Admiral Koltschak schätzt er moralisch sehr hoch ein, hält ihn jedoch politisch für vollständig unfähig. Auch, für die gegenrevolutionäre Regierung des Admirals hat er nur wenig übrig. Sehr abfällig ist seine Beurteilung der Politik der Entente und insbesondere Japans in Sibirien.

Lieber das Sibirien der Sowjetzeit gibt Semjonow reiches, aber nicht vollkommenes Material. Das ist erklärlich. Semjonow hat ja nur gedrucktes Quellenmaterial zur Verfügung. Das ist relativ wenig. Vieles kann man nur erfahren, wenn man selbst dort war. Da Semjonow nach der Revolution nicht in Sibirien war, ist seine Schilderung des Sibiriens der Sowjetzeit etwas blaß. Wertvoll bleibt sie trotzdem. Jedoch vergißt Semjonow zu erwähnen, daß die alten sibirischen Menschen eigentlich verschwunden sind. Das Sibirien vor der Revolution, obwohl von Russen besiedelt, hatte eine eigene menschliche Physiognomie. Kein Wunder daher, daß die „Sibiriaken“ von Zeit zu Zeit an die Gründung eines eigenen Staates dachten. Nur die stärksten traten freiwillig den Weg nach Sibirien an. Die* stärksten und rücksichtslosesten überlebten Wanderung und Ansiedlung. Es war eine natürliche Auslese. Nicht nur Abenteurertum und Unter-nehmerlust waren die Triebfeder der Wanderung. Vor allem ein unbändiger Freiheitsdrang. Man wollte nicht nur der Not, sondern auch dem unerträglichen Druck der Leibeigenschaft, dem Druck und der Unfreiheit des zaristischen Staates entrinnen. Es hat nie eine Leibeigenschaft in Sibirien gegeben. Niemand in Sibirien kam mit dem Staat und seinen Organen in Berührung, wenn er nicht wollte. Nur die feindliche Natur galt es zu bekämpfen und dem grausamem Gesetz des Urwaldes nachzuleben. Bis auf die Minderheit der Sträflinge hieß für alle anderen Sibirien - grenzenlose Freiheit. Und es entwickelte sich ein besonderer Typ des Sibiriaken. Groß und körperlich unglaublich stark, stolz und freiheitsliebend, vor niemand zog er seine Mütze. Unendlich hart und doch großzügig. Hilfsbereit und grausam. Ein ganz anderer Menschenschlag als der, der im europäischen Rußland lebt. Diesen Sibiriaken gibt es heute beinahe nicht mehr, er ist im Aussterben. Er ist ertrunken in der Masse der in kurzer Zeit in das Sibirien der Sowjetzeit Eingewanderten. Er ist untergegangen in der Industrialisierung und in der Kollektivierung der Landwirtschaft, in den neuen Großstädten. Menschlich gesehen, ist Sibirien nicht mehr sibirisch, sondern russisch. Eine wichtige Tatsache, die man wissen muß.

Interessant sind die Bevölkerungsziffern Sibiriens, die Semjonow gibt. 1892 hatte Sibirien fünfeinhalb Millionen Einwohner. 1897 — 5,759 Millionen, davon machten die Eingeborenen knappe zehn Prozent aus. Nach dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn vermehrte sich die Bevölkerung rasch. Knapp vor dem ersten Weltkrieg zählte sie rund zehn Millionen. Heute schätzt Semjonow die Bevölkerung Sibiriens auf 40 bis 50 Millionen Menschen.

Phantastisch nennt Semjonow das, was die Sowjets in Sibirien erreicht haben. Die Sowjetleute, weil sie meistens Sibirien selbst kannten, hatten an ihm großes Interesse. Zuerst ließen sie es gründlich erforschen. Dann begann die Industrialisierung. Die Kohlenvorkommen wurden erschlossen. Das Kuznjetzker Kohlenbecken wurde durch eine Bahn mit dem Ural verbunden und tauschte Kohle gegen Erze. Die Uralindustrie wurde dadurch belebt und erweitert. Später wurden neue Erz- und Kohlenvorkommen erschlossen, die näher an den Kuznjetzker Industriebezirk herankamen. Durch Sibirien zieht sich eine Reihe mächtiger Industriebezirke: der Kasachsche, der nowo-sibirische, der Kuznjetzker, der transbaikalische und der fernöstliche. Das sind Bezirke der Schwerindustrie. Doch auch sonst entstehen überall Industrien. Erdölvorkommen wurden entdeckt und ausgebeutet. Während des letzten Krieges wurden aus dem europäischen Rußland 455 große Betriebe nach dem Ural und 660 nach Sibirien evakuiert. Sie blieben meist dort. Auch nach dem Kriege. Der große nördliche Seeweg entlang der Nordküste Sibiriens, der Traum unzähliger Gelehrter und Seeleute, wurde erschlossen und organisiert. Hinter dem Polarkreis, am Gestade des Nördlichen Eismeeres, entstanden Großstädte, Häfen, Flugplätze und Industrien. Auf den einst unbewohnten Inseln im nördlichen Polarmeer laufen jetzt Kinder auf Skiern in die Schule. Das ist von großer strategischer Bedeutung und noch größerer Bedeutung für die weitere wirtschaftliche Erschließung Sibiriens.

In einem irrt Semjonow. Er glaubt, daß die Sowjetregierung das alles vollbringen konnte, weil sie Millionen unbezahlter Zwangsarbeiter, eine ganz billige Arbeitskraft, einsetzte.

Das stimmt nicht. Denn die Zwangsarbeit in Rußland ist nicht billig, sondern sehr teuer. Sie wird auch in der Sowjetunion dort nicht eingesetzt, wo es um echte wirtschaftliche Arbeit geht. Die Millionen von Zwangsarbeitern wurden dort verwendet, wo es sich um strategische Bauten handelte, in Gegenden, in die man keine freiwilligen Arbeitskräfte, auch bei noch so großer Belohnung, hinbekam Also dort, wo es auf eine Rentabilität nicht ankam. Hinter dem Polarkreis und vor allem beim Bau von Kanälen, welche die Sowjetregierung aus strategischen Gründen brauchte. Erst im Krieg, als es auf die Rentabilität nicht mehr ankam, wurden Zwangsarbeiter auch in der eigentlichen Industrie eingesetzt.

Interessant ist das Schlußkapitel Semjonows: über die russisch-chinesischen Beziehungen. Er glaubt nicht,, daß China ein Satellit der Sowjetunion ist. Die Weltpresse, die russische Annexionen in China voraussagte, hat sich geirrt. Moskau führt in China im Gegenteil eine ausgesprochene Politik der Freundschaft. Das russisch-chinesische Bündnis hält Semjonow für dauerhaft. Er meint auch, daß wirtschaftlich China und Sibirien in späterer Zukunft ineinanderfließen werden. Daß vor allem die Mandschurei die Getreidebasis des sowjetischen Fernen Ostens sein wird. Hier glauben wir, irrt Semjonow. Die letzten Maßnahmen der Sowjetregierung, eben die landwirtschaftliche Kolonisation Sibiriens, die allerdings nach Erscheinen des Buches einsetzte, beweist, daß Moskau auch in der Ernährung Sibiriens nicht von China abhängig sein will.

Alles in allem: Wir haben noch selten ein o spannendes, an Material übervolles und aufschlußreiches Buch über die Sowjetunion gelesen wie das Werk Semjonows. Als Quelle des Wissens über Sibirien ist es überhaupt einzigartig.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung