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Mutter Wolga, Ernährerin

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Der Ministerpräsident der Sowjetunion, Marschall Nikolaj Alexandrowitsch Bulganin, stammt von den Ufern der Wolga. Er ist der dritte Regierungschef der russischen Revolution, der von dort kommt. Der erste war Alexander Kerenski, der Führer der großen Sozialrevolutionären Partei, der nach dem Sturze des letzten Zaren eine Art von demokratischer Diktatur ausübte und von einem andern Mann von der Wolga gestürzt wurde, von Wladimir Iljitsch Uljanow, der in die Weltgeschichte unter seinem literarisch-politischen Pseudonym Lenin einging. Nach ihm heißt jetzt auch die stille Stadt Simbirsk an der Wolga, wo er geboren wurde, Uljanowsk. In dem Flußhafen vor Nischnij Nowgorod, das jetzt Gorkij heißt, trieb sich unter Schiffsschleppern und Lastenträgern ein etwas zerlumpter Junge herum, Alexej Pjesch-kow, der in der russischen und der Weltliteratur unter dem Pseudonym Maxim Gorkij bekannt ist.

Daß ein so großer Strom viele Menschen ernährt und daher von vielen Volksliedern besungen wird, ist verständlich. Fließt doch dieser gewaltige Strom 3788 Kilometer, ist- also mehr als doppelt so lang als die Donau. Sein Einfluß-gebiet mit seinen schiffbaren Nebenflüssen ist 1,38 Millionen Quadratkilometer. Sein längster Nebenfluß, die wasserreiche Kama, ist 2032 Kilometer lang, also länger als die Donau. Die ganze russische Geschichte spielte sich hier ab.1 Vor allem als Zar Iwan IV., der Schreckliche, 1552 die tatarischen Staaten, darunter das mächtige Kasan, eroberte und so aus einem internationalen Strom, an dessen Ufern mehrere Staaten bestanden, einen russischen Fluß machte. Doch schon vorher war ja Jaroslawl an der Wolga einst das Zentrum Rußlands. Moskau selbst wurde groß, weil es im Einflußgebiet der Wolga liegt. 1613, als Rußland ohne Zaren und Moskau von den Polen besetzt war, kam von der Wolga die Volkserhebung. Aus Kostroma stammt die Dynastie der Romanow. Die Bürger von Nischnij Nowgorod und Kostroma waren es, die eine neue Armee organisierten und die Polen vertrieben. Auf der Wolga trieb sich der Kosak Jermak herum, bis er im Auftrage der Kaufleute Stroganoff Sibirien eroberte. Hier kämpfte im 17. Jahrhundert ein anderer Kosak, Stephan Rasin, der vielbesungene, halb Räuber, halb Rebell, gegen den Zaren und die Grundbesitzer.

Hier an der Wolga war auch der Schauplatz der blutigen Jakkeerie des von dem Uralkosaken Emeljan Pugatschew entfachten Aufstandes der leibeigenen Bauern. Zuerst sah man an den Ufern des Stromes die Galgen, an denen Pugatschew, der sich als Kaiser Peter III., den ermordeten Gemahl der großen Katherina, ausgab, die adeligen Grundbesitzer und kaiserlichen Beamten aufhängte. Dann war die Strafexpedition noch erfinderischer. Sie ließen Flöße bauen, auf denen ein paar Galgen standen, an denen die Rebellen hingen, und sandten diese makabren Fahrzeuge den Strom hinunter.

In der Neuzeit war der Fluß wiederholt das Schicksal Rußlands. Hier hat es sich entschieden, ob die bolschewistische Revolution siegen wird. Die Herrschaft des roten Moskau beschränkte sich 1918 auf das eigentliche Rußland. Von allen Seiten stürmten die Armeen der Gegenrevolution gegen das rote Herrschaftsgebiet. Natürlich erkannten die Strategen der „weißen“ Bewegung im Süden, daß die Forcierung des Ueberganges der unteren Wolga ihnen den sicheren Sieg geben kann. Die Entscheidung fiel auch bei der Stadt Zaryzin, dort wo die beiden mächtigen Flüsse Wolga und Don sich am nächsten kommen. Der Bevollmächtigte der bolschewistischen Partei, Josef Stalin, war es, der diese Schlacht gewann. Er wurde nur dazu an die Wolga gesandt, um für die Hauptstadt Lebensmittel zu beschaffen. Doch er erkannte die Lage, riß in Zaryzin eigentlich widerrechtlich das Kommando an sich und siegte. Später wurde Zaryzin in Stalingrad umbenannt.

In dieser Stadt entschied sich dann zum zweiten Male das Schicksal Rußlands. Die geographische Lage bedingte zum zweiten Male das geschichtliche Geschehen. Ebenso wie die zaristischen Generale 1918, so blieb auch die deutsche Wehrmacht vor Moskau und Leningrad stecken. Ebenso wie die zaristischen Generale hatten die Deutschen den Süden Rußlands in ihrem Besitz. Sie stießen also vom Don an die Wolga vor, um das russische Schicksal zu entscheiden. Bei Zaryzin-Stalingrad wurde also zum zweiten Male blutig Weltgeschichte gemacht.

Schon der Bürgerkrieg zeigte den Männern im Kreml die Bedeutung der Wolga in der Neuzeit. Die Armeen der Zentralmächte, später die der Gegner des Bolschewismus, besetzten die Ukraine und Südrußland. Alles, was von Moskau nach dem Westen zu liegt, ist also im Kriegsfall ein „Vorfeld“, das unter Umständen geräumt werden muß. Die Folge dieser Erkenntnis ist der planmäßige Ausbau der Industrie im östlichen Teil des europäischen Rußland und im russischen Asien. Dieser Erkenntnis zufolge ist die vor der Revolution bereits im Absterben befindliche Uralindustrie (weil sie keine eigene Kohle hatte) wieder neu belebt und gewaltig erweitert worden. Man scheute die Kosten nicht, von den sibirischen Kohlenvorkommen eine eigene Bahn zu bauen, welche die Kohle aus dem Kusnjetzker Gebiet in Sibirien nach dem Ural bringt. Auch das Industriebecken der Karaganda in Kasakistan ist aus diesem Grunde forciert schnell ausgebaut worden. Schließlich, da ja mit der Ukraine und dem Dongebiet im Kriegsfalle nicht unbedingt gerechnet werden kann, wird als Kornkammer der Sowjetunion nicht nur Westsibirien und das weite Kasachstan seit Jahrzehnten landwirtschaftlich mit freiwilligen und Deportierten besiedelt, sondern jetzt auch ein grandioser Plan (35 Millionen Hektar) der Urbarmachung jungfräulichen sibirischen Bodens verwirklicht.

Der mächtige alte Strom ist jene natürliche Befestigungslinie, welche diese unendlich weiten Gebiete abschirmen soll. Wie im vergangenen Krieg, als es hinter der Wolga nicht einmal eine Verdunkelung gab, soll der Strom die Grenze sein, die Kriegsgebiet und Hinterland trennt. An der Wolga beginnt aber auch erst die intensive Industrialisierung. Eigentlich schon seit 1928, als aus Zaryzin Stalingrad wurde. Denn hier sollte der Kanal, der die Wolga mit dem Don verbindet, beginnen. Die Wolga fällt ja ins Kaspische Meer, das eigentlich ein Binnensee ist. Durch den Kanal wird sie aber jetzt mit dem Schwarzen Meer verbunden. Noch bevor etwa vor vier Jahren dieser Kanal fertiggestellt wurde, war schon der Moskwa-Wolga-Kanal fertig. Damit konnten auch größere Schiffe von der Wolga nach Leningrad gelangen und über den Baltisch-Weißen-Meer-Kanal ins Weiße Meer. So ist heute die Wolga, die früher nur in einen riesigen salzigen Binnensee floß, der die Ufer nur zweier Staaten, der Sowjetunion und Per-siens, umspült, heute mit fünf Meeren verbunden. Damals, 1928, begann auch die Industrialisierung der Wolga. Bis dahin gab es in den Wolgastädten nur eine bescheidene Industrie. Nischnij Nowgorod, das jetzt Gorkij heißt, war eine große Handelsmetropole, vor allem dank ihrer alten, weltbekannten Warenmessen. Jetzt wurde sie Industriestadt. Das größte Zentrum der sowjetischen Automobilindustrie, das rote Detroit. Sie hatte bereits 1939 650.000 Einwohner, zumindest also fünfmal soviel wie 1914. Die Molotow-Automobil-Werke hier sind die größten der Sowjetunion. Und da sie außer Personenwagen auch schwere Lastwagen fabrizieren die militärisch wichtigsten. Auch rings um Nischnij Nowgorod entstand eine große Industrie. Die zweite Stadt, deren Industrialisierung eben 1928 begonnen wurde, ist Stalingrad. Das größte Industriewerk dort sind die Traktorenwerke. Es ist kein Wunder, daß sich die Einwohnerzahl dieser Stadt in den Jahren 1926 bis 1939 (beides Volkszählungsjahre) verdreifachte. Vor dem letzten Kriege zählte sie bereits 445.560 Menschen. 1944 waren die Traktorenwerke, also knapp ein Jahr nach der Niederlage der Deutschen bei Stalingrad, so weit fertig, daß am 17. Juni 1944 bereits wieder der erste Traktor fertiggestellt wurde. Bis dahin waren auch 12.000 Wohnhäuser wiederaufgebaut.

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