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Neuer Staat für Wolgadeutsche

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In der Sowjetunion leben etwa 1,9 Millionen Rußlanddeutsche, davon etwa 57 Prozent mit Deutsch als Muttersprache, die in der rußlanddeutschen Landsmannschaft zusammengeschlossen sind. Die größte Gruppe dieser Deutschstämmigen sind die Wolgadeutschen. Die deutsche Wolga-Republik wurde 1924 gegründet und hatte ein sehr starkes Eigenleben. Stalin ließ die Wolgadeutschen (etwa 1,5 Millionen an Zahl) nach Sibirien und nach Kasachstan deportieren, wobei viele ums Leben kamen.

Inzwischen ist der Vorwurf der Kollaboration mit Hitler-Deutschland, den ihnen Stalin machte, fallen gelassen worden. Die Aussiedlung wurde ebenso wie jene der Tataren für ungültig erklärt. Aber das besagt noch nicht, daß die Rußlanddeutschen, ob nun Wolgadeutsche oder andere Deutsche, die seit Peter dem Großen in Rußland leben, in ihre angestammte Heimat an der Wolga zurückkehren dürfen. Die Frage ist offen, aber gewinnt mit der Auflösung der Sowjetunion zunehmend an Bedeutung. Das kann man auch den in Kasachstan erscheinenden (russischen) Zeitungen entnehmen.

Für eine Rückkehr an die Wolga treten die Journalisten der diversen Zeitungen und Zeitschriften ein, am bekanntsten wohl der Moskau-Deutsche Waldemar Weber, der viel in Westeuropa reist und Vorträge hält.

Es stellt sich nun die Frage, ob die Rußlanddeutschen wieder an die Wolga zurückkehren wollen, was für die aus der Wolgarepublik Gekommenen das nächstliegende ist. Aber die vielen anderen und auch einige Wolgadeutsche streben die Übersiedlung nach Ostpreußen an. Die diesbezügliche Neigung ist sehr ausgeprägt und einige Familien sind bereits nach Ostpreußen übersiedelt, weitere sollen in nächster Zeit folgen. Ihnen werden keine Schwierigkeiten bereitet, während die Wiedererrichtung der Wolgarepublik seitens der Zentralbehörden auf Schwierigkeiten stößt.

Deutsche in Ostpreußen?

Hiebei zeichnen sich folgende Gebiete in dem russisch gewordenen Teil Ostpreußens ab: Jasnaja Poljana (ehemals im Gestüt Trakehnen; das Gestüt selbst befindet sich heute bei Lübeck), Tschistye Prudy (vormals Tollminkehmen) und die Sowchose Kuybyschew östlich von Königsberg. Da das nördliche Ostpreußen keinen Gebietszusammenhang mit Rußland hat und nur an Litauen grenzt, erweist sich die Verwaltung des östlichen Ostpreußen als schwierig und streben die Rußlanddeutschen, soweit sie überhaupt nach Ostpreußen übersiedeln wollen, die Schaffung einer eigenen rußlanddeutschen Republik Ostpreußen an, deren Hauptstadt nicht mehr Kaliningrad heißen soll, sondern wiederum Königsberg. Das geschähe nach dem Muster von Leningrad, welches nunmehr wieder St. Petersburg heißen soll, wofür sich der dortige sowjetische Reformpolitiker Anatoli Sobtschak einsetzt. Dieser hat ' auch an der Gründung der Leningrader Deutschen Gesellschaft im November 1990 mitgewirkt und sich für eine Gründung eines deutschen Gymnasiums für die Nachfahren der 70.000 Leningrader beziehungsweise St. Petersburger Deutschen stark gemacht. Der Stadtsowjet von Leningrad ist nicht mehr kommunistisch beherrscht.

Aus Dschambul in Kasachstan, wohin die meisten Wolgadeutschen gekommen sind, will ein Teil der Wolgadeutschen ebenfalls nach Ostpreußen und strebt die Schaffung von Kulturzentren für die Ruß-landdeutschen an.

Der Leiter der Sowchose Königsberg, Eigenscharf, selbst ein Rußlanddeutscher, strebt die Gründung einer Tageszeitung „Petersburger Allgemeine" an, die entweder in Königsberg oder in St. Petersburg erscheinen soll. Da wäre dann die erste deutsche Tageszeitung in der Sowjetunion vorhanden. In Kasachstan erscheint nur ein Wochenblatt.

Wenn es dazu kommen sollte, daß Ostpreußen, nördlicher Teil, eine deutsch-russische Republik wird, mit Königsberg als Hauptstadt, taucht aber die Frage auf, ob das südliche Ostpreußen, das heute zu Polen gehört, nicht auch sich diesem neuen deutschen Teilstaat anschließen möchte. Denn die Deutschen in Polen haben, trotz des neuen von Bundeskanzler Kohl durchgedrückten Nachbarschaftsvertrages zwischen Deutschland und Polen, fast keine Rechte. Am ehesten haben sie solche noch in Oberschlesien (mit einem deutschen wissenschaftlichen Institut), aber schon gar nicht im heutigen Teil Ostpreußens.

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