Sowjetunion Glasnost Russland - © Foto: Brendan Read/Fairfax Media via Getty Images

Russland: Zerbrochene Hoffnungen

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Nach der Atmosphäre der Angst kam nach 1989 das Gefühl des Aufbruchs. Mit seinen persönlichen Erinnerungen an Russland erzählt der Historiker Christian Jostmann eine Geschichte der Enttäuschung.

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Nach der Atmosphäre der Angst kam nach 1989 das Gefühl des Aufbruchs. Mit seinen persönlichen Erinnerungen an Russland erzählt der Historiker Christian Jostmann eine Geschichte der Enttäuschung.

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Bis vor wenigen Tagen ließ sich, allen popkulturellen Revivals zum Trotz, das Lebensgefühl im geteilten Europa der achtziger ­Jahre nur schwer vergegenwärtigen. Damals erlebte meine Generation ihre prägenden Jugendjahre, im Schatten von Umweltkrise, verhärteten innenpolitischen Fronten und nuklearem Wettrüsten. Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 und ab 1983 die Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik als Antwort auf die sowjetische SS-20 erzeugten eine Atmosphäre der Angst, die auf dem Alltag lastete wie die Schwüle eines drohenden Gewitters.

Sommers fanden in unserer Gegend große Manöver statt, mit endlosen Konvois von Militärfahrzeugen auf den Straßen und Soldaten, die in den Wäldern unter Tarnnetzen Stellung bezogen. Nur wenige Kilometer von meinem Heimatort standen in Silos auf dem Kamm des Teutoburger Waldes atomare Flugabwehrraketen zum Abschuss bereit. Die amerikanischen Cruise Missiles empfanden wir als ebenso bedrohlich wie die Raketen, die von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs auf uns gerichtet waren. In Ronald Reagans Rüstungspolitik sahen wir eine Aggression, die das „Gleichgewicht des Schreckens“ ins Wanken brachte. Aber wie konnten wir das Wettrüsten stoppen, außer auf Kirchentagen dagegen zu protestieren und den Kriegsdienst zu verweigern? Es blieb nur die Hoffnung, dass „the Russians love their children too“ – wie Sting eindringlich sang.

Als sich endlich Anzeichen einer Entspannung bemerkbar machten, kamen sie ausgerechnet aus Reagans „Reich des ­Bösen“, der Sowjetunion. Deren Kommunistische Partei hatte seit 1985 einen neuen Generalsekretär, der mit unerhörten Tönen aufhorchen ließ. Michail Gorbatschows Name war bald in aller Munde, so wie zwei Schlagworte seiner Politik: Glasnost und Perestroika. Das eine stand für Offenheit, das andere für Reform. Offenbar waren es nicht bloß Schlagworte. Gorbatschow ­brachte nicht nur Bewegung in das verkrustete System des Kommunismus, sondern auch in die erstarrten Fronten des Kalten Krieges. Er suchte den Dialog mit dem Westen und schien ernsthaft abrüsten zu wollen. So wurde er in unseren Augen zum Sympathieträger, zum positiven Gegenbild von Hard­linern wie Reagan und Thatcher.

Erster Schüleraustausch

Ob es an Gorbatschow lag oder am exotischen Klang der Wörter Glasnost und Perestroika – nicht nur ich begann mich damals für Russland zu interessieren. Die Stadt Bielefeld, wo ich zur Schule ging, schloss 1987 eine Städtepartnerschaft mit Nowgorod. Die Initiative war aus der kirchlichen Friedensbewegung entstanden. Die Idee: Menschen, die Freundschaft schließen, werden nicht aufeinander schießen. Führend beteiligt war eine meiner Lehrerinnen. So fuhr ich im Sommer 1989 mit einer Gruppe von Schülern aus Nowgorod in ein Feriencamp. Es war einer der ersten Austausche zwischen Schulen in Russland und der Bundesrepublik. Anschließend kam für eine Woche Roman als Gast in meine Familie und beschämte uns durch seine Deutschkenntnisse. Also wurde in einer freiwilligen AG ein Jahr lang eifrig Russisch gelernt, damit wir sprachlich fit waren für den Gegenbesuch, der im Frühsommer 1990 stattfand.

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