6662833-1960_17_03.jpg
Digital In Arbeit

Der gläserne Sarg

Werbung
Werbung
Werbung

I. Im „Adelsnest“

Auf dem steilen rechten Hochufer der Wolga steht die Stadt, die einst Simbirsk hieß und heute Uljanowsk, nach dem eigentlichen Geschlechtsnamen Lenins, genannt wird.

Die Stadt, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts gegründet worden ist, rund ein Jahrhundert, nachdem Moskau die Wolga erobert hatte, unterschied sich in vielem von den übrigen Städten an dem großen Strom. Denn die Städte

DER DREIJÄHRIGE LENIN an der Wolga, jeweils als Festungen gegründet, entwickelten sich rasch zu Handelsstädten. Zu verlockend war die große Handelsstraße des Stromes, der Handel mit den fremden Völkerschaften und mit Asien, wo große Gewinnmöglichkeiten winkten, so daß der Kaufmann sehr bald..da&iGesiddiesdr Städte prägte, selbst,4as Gesicht, Kasans, obwohl diese Stadt, die..zweite älteste Universität Rußlands, die-einzige-an der, Wolga, und andere Hochschulen beherbergte. Erst in Kasan verspürte man das nahe Asien, war es doch einst die Hauptstadt eines Tatarenreiches. Das tatarische Element gab dieser Stadt eine besondere Note. Von da an bis zum bunten Völkergemisch Astrachans tauchten an den Ufern der Wolga immer mehr mongolische und finnische Völkerschaften auf, sah man die bizarre Silhouette des Kamels als erste Vorhut des noch geographisch fernen Asiens.

Ganz anders war Simbirsk. Es war noch urrussisch. Die fremden Völkerschaften und Stämme, die einst hier lebten, waren verschwunden, abgewandert oder vom Russenturn völlig aufgesaugt worden. Der russische Adel hatte frühzeitig rings um Simbirsk seine großen Güter erworben. Die fremden Völkerschaften, mit denen man einen so lukrativen Handel treiben konnte, waren weit entfernt. So war es eben der russische Landadel, der sich der Stadt bemächtigte. Man nannte Simbirsk darum ein „Adelsnest“. Denn hier besaß der Landadel seine Stadthäuser, um den rauhen Winter zu überdauern. Hier tanzte er auf den Bällen der Gouverneure und im Adelskasino So ist es nur verständlich, daß hier auch eine Reihe von Institutionen entstand, für den Adel geschaffen, und damit den Charakter der Stadt immer mehr prägend. Hier gab es das Gymnasium mit dem Internat, das Kadettenkorps und die Junkerschule, alles Lehranstalten für die Söhne des Landadels. Hier saßen die Selbstverwaltungsbehörden des Adels. Im Sommer war Simbirsk mit seinen niedrigen Häusern und den großen Gärten, mit seinen von schattigen Bäumen geschmückten Straßen still und verschlafen. Im Winter aber entwickelte sich ein reges intellektuelles Leben. In der Umgebung von Simbirsk spielen viele der in Rußland so populären Romane Turgenjews, darunter auch der Roman „Das Adelsnest“, welcher der Stadt später den Übernamen gab. Wenn man von Simbirsk mit dem Dampfer die Wolga hinunterfährt, wird einem stets auf dem rechten Ufer ein kleines Tempelchen in klassischem Stil gezeigt, das im Roman Turgenjews erwähnt wird. Einem Roman entnahm auch später der hier geborene Revolu tionär Wladimir Iljitsch Uljanow sein publizisti sches und revolutionäres Pseudonym „Lenin“.

So klein Simbirsk mit seinen 50.000 bis 60.000 Einwohnern war, hat es doch der neueren russischen Geschichte manche prominente Persönlichkeit geschenkt. Aus dieser Gegend stammte der zaristische Ministerpräsident Stolepin, aber auch der politische Gegenspieler Lenins, der Rechtsanwalt und spätere Diktator Kerensky, dessen Regime die Bolsche-wiki stürzten.

In Simbirsk wurde Seiner Exzellenz dem Wirklichen Staatsrat Ilja Uljanow am 22. April 1870, also vor nunmehr 90 Jahren, sein zweiter Sohn Wladimir geboren. Niemand konnte natürlich damals ahnen, daß das Kind einmal Weltgeschichte machen würde. Der Wirkliche Staatsrat Uljanow war damals Inspektor der Volksschulen an der Wolga. Er war also nach russischen Begriffen ein hoher Staatsbeamter. Es wird übrigens behauptet, daß der Vater Lenins gegen Ende des Lebens auch Kurator des Lehrbezirkes geworden ist. Obwohl über dreißig Jahre seit dem Tode Lenins vergangen sind, obwohl das Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau das Leben Lenins genau durchforschte, ist keine sowjetische Publikation erschienen, welche klaren Aufschluß gäbe über die Abstammung und die familiären Verhältnisse Lenins. Man gibt zwar zu, daß Lenin dem Kleinadel angehört hat, versucht jedoch seine Abstammung so darzustellen, als ob sein Vater im Grunde genommen ein kleiner, wenig bemittelter Beamter war, dessen Adel schließlich und endlich bloß durch die Dienstjahre ersessen wurde. Es bestand ja in Rußland ein Gesetz, daß jeder Offizier, der den Obensten-rang erreicht, und jeder Beamte, der zum Generalsrang emporsteigt, damit automatisch den erblichen Adel erwirbt. Die Familie Uljanow wird wohl wahrscheinlich vom älteren Adel abstammen, und auch ihre Vermögensverhältnisse waren durchaus befriedigend, auch nach dem Tode des Vaters. Lenin hatte nie Not gelitten.

Man könnte sich wundern, daß Lenin, im Milieu einer höheren Beamtenschaft, in einer Stadt und in einer Gesellschaft aufgewachsen, in welcher der Adel tonangebend war. zu einewso radikalen Revolutionär wurde. Aber die russische Entwicklung war eben eine ganz andere als die' des westlichen Europas. Wenn die unterdrückten russischen Bauern, die Fabrikarbeiter und Fremdvölker die Last nicht mehr tragen konnten, dann rebellierten sie einfach. Es kam zu blutigen Revolten ohne Programm und auch ohne Forderungen, einfache Explosionen eines unerträglich gewordenen Zustandes. Die russische Intelligenz, von der ja so viel geschrieben wird, war bis in die sechziger Jahre rein und streng adelig. Im allgemeinen besaß eben nur der Adel Bildungsmöglichkeiten, und innerhalb des gebildeten Adels entstanden zuerst die dem Zarentum oppositionellen Strömungen, die sich dann zu revolutionären Organisationen verdichteten. Die ersten dieser Organisationen Anfang des vorigen Jahrhunderts, die eine klare Ideologie und ein Programm hatten, besaßen ausschließlich adelige Mitglieder. Die sogenannten Dekabristen, der Bund hochadeliger Gardeoffiziere, nach dem Datum ihres ersten revolutionären Versuchs im Dezember 1825 benannt, zählten in ihren Reihen einige Fürsten aus vornehmstem Geschlecht. Erst in den sechziger Jahren kommen die Söhne des Bürgertums auch zu Bildungsmöglichkeiten und damit auch zur revolutionären Bewegung. Vertreter der Bauern und des Industrieproletariats haben bis zur Oktoberrevolution nie eine besondere Rolle innerhalb der revolutionären Parteien gespielt. Wenn man die Listen der alten Bolschewiken durchgehen wollte, so fände man, daß eine große Anzahl von ihnen sehr bekannten russischen Adelsgeschlechtern angehörte.

Die Atmosphäre der Gesellschaft aus Simbirsk des vorigen Jahrhunderts war daher keineswegs eine Atmosphäre sturen Landjuiikertums. Eben weil hier, zum Unterschied von anderen Wolgastädten, das damals noch sehr ungebildete kaufmännische Element nicht so im Vordergrund stand, war Simbirsk eine Stadt der Intelligenz. Die hohe Beamtenschaft hatte dort mit Begeisterung die großen Reformen Alexanders II. nach 1860 mitgemacht, war beinahe durchweg liberal und fortschrittlich und litt ebenso wie das gebildete Russenturn daran, daß Kaiser Alexander II. in der zweiten Hälfte seiner Regierung wieder reaktionär geworden war. Es ist verständlich, daß sich also hier wie auch im ganzen

übrigen Rußland die Jugend zusehends radikali-sierte und von einem liberalen Reformertum zu einem kämpferischen, revolutionären Umsturzwillen gelangte. Die Familie Ilionan Uljanow machte darin keine Ausnahme. Alle Kinder des Wirklichen Staatsrates Uljanow wurden Revolutionäre, der älteste Sohn Alexander schon zu einer Zeit, da der zweite Sohn Wladimir, der später die Weltgeschichte erschüttern sollte, noch ein Kind war.

Das Staatsgymnasium in Simbirsk konnte diese Entwicklung nicht aufhalten. Wenn auch die Lehrer und Schüler in militärisch geschnittenen Uniformen umhergingen und einer beinahe militärischen Disziplin unterworfen waren — ein Hauch oppositionellen Liberalismus schwebte trotzdem durch die Säle mit den überlebensgroßen Zarenporträts und die Klassenzimmer. Es ist interessant, daß der Gymnasiast Wladimir Uljanow sich in jeder Beziehung an die Vorschriften hielt, acht Jahre Religionsunterricht genoß, den vorgeschriebenen Kirchenbesuch absolvierte und zu den festgesetzten Terminen Leim Schulinspektorat die vorgeschriebene Bestätigung von der abgelegten Beichte beibrachte. Obwohl sein Religionslehrer ein aufgeschlossener Geistlicher war, sollte der erwachsene Lenin einmal erklären: „Selbst das Wort Religion ist mir ein Greuel.“ i

Der Gymnasiast Wladimir Uljanow kannte in seiner ganzen Jugend eigentlich die Not des russischen Volkes und die ausschweifende Üppigkeit der ganz obersten Schicht Rußlands nur vom Hörensagen. Simbirsk hatte keine Industrie, und so kam der junge Uljanow mit Arbeitern so gut wie nie zusammen. Auch die Bauernschaft rings um Simbirsk kannte eigentlich nicht die fürchertliche Not, die in manch anderen russischen Gebieten bestanden hatte. Allerdings, nach der ersten Schneeschmelze strömten an die Wolga die Armut und das Vagabundentum des ganzen rechtgläubigen Mütterchens Rußland zusammen. Als Lastträger, meistens jedoch als Schlepper, fanden diese Enterbten wenigstens den Sommer über ein schweres und kümmerliches Brot. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich der junge Uljanow viel im Hafen aufhielt, auch nicht dafür, daß dieses sommerliche Bild einen besonders starken Jugendeindruck hinterlassen hat. Die revolutionäre Gesinnung Lenins wird wohl durch Lektüre, durch die geistige Atmosphäre der Umgebung, vielleicht auch durch den, Einfluß seines älteren Bruders Alexander angeregt Wörde11 sein- (Fortsetzung folgt)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung