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Fünfzig Jahre Sowjetunion

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Man solle, so meinte einmal ein Mann der Geschichtswissenschaft, die historische Betrachtung eines Geschehens nicht durch eine hysterische ersetzen. In der Betrachtung jener russischen Revolution von 1917, die der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan „das größte politische Ereignis unseres Jahrhunderts“ nennt, ist man diesem Grundsatz immer wieder untreu geworden. Pertinax schrieb am 9. November 1917 in „L'Echo de Paris“, die Bolschewiki seien nur „Handlanger der Deutschen“. Die Londoner „Morniing Post“ machte „russische Juden deutscher Abstammung“ für die Revolution verantwortlich und meinte, üie Wahrheit über die Revolution sei dn den „Protokollen der Weißen von Zion“ zu finden. Die distinguierte „Times“ berichtete über das Geschehen in Rußland unter Titeln wie: „Lenin der Schreckliche“, „Verbrechen an Schulmädchen“, „Bolschewistischer Blutrausch“, „Wiederaufleben der Greuel des heidnischen Rom“. Selbst die „Times“ glaubte eine Zeitlang an die jüdische Weltverschwörung.

Distanz für ein Urteil

Die erste und heftige Reaktion der öffentlichen Meinung des sogenannten Westens auf die Oktoberrevolution hatte einen faschistischen Grundtenor. Daß das Pendel dann später ins andere Extrem ausschlug und eine Flut naiver und blinder Rechtfertigungsliteratur, zum Teil verfaßt vom braven Bourgeois, sich über die verdutzten Zeitgenossen ergoß, machte alles nur noch schlimmer. Obgleich inzwischen das Historische sich gegenüber dem Hysterischen einigermaßen durchzusetzen vermochte, sind diese beiden extremistischen Tendenzen in der Betrachtung der Oktoberrevolution und der Geschichte der Sowjetunion zum Teil auch heute noch lebendig. Am 50. Geburtstag der Revolution könnte man allerdings so viel Distanz zu dem Geschehen im Jahre 1917 und den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht gewonnen haben, daß ein sachliches Urteil möglich werden sollte. Ein solches setzt freilich voraus, daß man von gewissen geschichtlichen Tatsachen Kenntnis nimmt. Mir scheint, es gebe deren mindestens drei.

Die Zeit war reif

Die erste ist: das zaristische Rußland war 1917 am Zusammenbrechen, Rußland war reif für eine Revolution, und eine solche wäre — in dieser oder jener Form — auch ohne ■Marx und Lenin erfolgt. Das Zaren-tum hatte abgewirtschaftet. Schon ein Menschenalter zuvor, im Jahr 1853, hatte Alexander Herzen geschrieben, Rußland könne jeden Tag dn den Sog einer schrecklichen Revolution geraten. Schon 1905 war es zu einem ersten revolutionären Aufstand gekommen, der zwar noch niedergeschlagen werden konnte, der aber bereits die ganze Morschheit des Regimes enthüllte. Der Eintritt Rußlands in den Weltkrieg erwies sich dann als eine Belastung, die das Regime nicht mehr ertrug. Viel zu spät hatten die Zaren am die Notwendigkeit einer Agrarreform ge-

dacht. Das Millionenheer der Kleinbauern blieb letztlich wegen deren Rückständigkeit dem Regime entfremdet. Die Intellektuellen standen meist in radikaler Opposition, und trotz der Existenz eines Parlaments,

der Duma, gab es keine demokratisch gewählte politische Repräsentation, die zu einer Uberwindung der Entfremdung zwischen Volk und Regime hätte beitragen können. Die Armee war weitgehend demoralisiert, und als es im März 1917 infolge der durch den Krieg verschlimmerten allgemeinen Mißwirtschaft in der Hauptstadt Petersburg zu einer Lebensmittelknappheit und als deren Folge zu Unruhen kam, verweigerten die zur „Wiederherstellung der Ordnung“ ausgesandten Truppen den Gehorsam und schlugen sich auf die Seite der Demonstranten.

Das war der Todesstoß für das Zarenregime. Und es war der Beginn der Revolution. Die Oktoberrevolution brach in Tat und Wahrheit dm März aus — als in spontaner, von niemandem geplanter oder vorbereiteter Aufstand. Noch zwei Monate vor Ausbruch der Revolution hatte Lenin in der Schweiz erklärt: „Wir Angehörigen der älteren Generation werden die Entscheidungsschlacht der kommenden Revolution vielleicht nicht mehr erleben ...“ Erst am 16. April, beinahe anderthalb Monate nach Beginn der Unruhen, traf Lenin, aus der Schweiz kommend, in Petersburg ein. Der Zar hatte schon einen Monat zuvor abgedankt, die Macht war zum Teil an eine provisorische Regierung mehrheitlich großbürgerlichen Charakters, zum Teil an die überall entstehenden .„Sowjets“ (Arbeiterräte) übergegangen. Aber auch in diesen Sowjets hatten die Bolschewisten keineswegs die Mehrheit. Sie bildeten eine verschwindende Minderheit im Land

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