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Geschichte als Hetzmittel

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Der Adler vom Don. Ein Roman um Stepan Rasin. Von Stepan S1 obin. Paul-Zsolnay-Verlag,

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Der Adler vom Don. Ein Roman um Stepan Rasin. Von Stepan S1 obin. Paul-Zsolnay-Verlag,

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Wien. 2 Bände. 1247 Seiten Stepan Rasin, oder populär Stenjka Rasin, war ein Kosak vom Don, der um 1670 als Räuberhauptmann den ganzen Unterlauf der Wolga rebellisch machte und dem es fast gelungen wäre, durch einen allgemeinen Bauernaufstand das moskowitische Reich zu erschüttern. Da ihm das Volk überall zujubelte, gewann er fast ohne Schwertstreich die Städte Astrachan, Zarizyn (Stalingrad) und Simbirsk, wobei er die kaiserlichen Strafexpeditionen eine nach der anderen schlug. Endlich wurde er in einer Schlacht bei Simbirsk von regulären Truppen besiegt, floh verwundet an seinen heimatlichen Don und wurde dort von den Kosaken an Moskau ausgeliefert, wo er seinen Tod auf dem Blutgerüst fand. Dieser Stenjka Rasin lebt im Volksbewußtsein noch heute fort, dank einem Lied, wo eine grausige Episode aus Rasins Leben erzählt wird, wie er nämlich eine persische Prinzessin, die er in seinen Piratenkämpfen auf dem Kaspischen Meer erbeutet hatte, in der Wolga ertränkt. Rasin ist das großartige Vorbild des um hundert Jalfte jüngeren Pugatschöw gewesen, den Puschkin in einem Geschichtswerk und einem Roman so lebensvoll dargestellt hat.

Es gibt ^bhl kaum eine Zeit, in der das russische Leben nicht schwerer gewesen wäre, und jedenfalls schwerer als das Leben der Westeuropäer. Die Russen sind eines der unglücklichsten Völker der Weltgeschichte, weil in ihnen ein zarter Sinn für Gerechtigkeit ständig mit einem barbarischen Talent für Ungerechtigkeit im Kampfe steht. Die Zeit Rasins war eine nach einem langen Kriege gegen die Polen, wo sich die Lasten des Volkes bis ins Unerträgliche vennehrt hatten. Das Sicherheitsventil für solche Zustände blieb dann seit je die Flucht det einzelnen Unterdrückten in den kosakischen Süden, der freiheitlich, mit einer Art Landsgemeinde organisiert war. Zu Rasins Zeit waren aber soviel Bauern an den kosakischen Don geflohen, daß dieser sie nicht mehr, eingemeinden, nicht mehr sich einverleiben konnte Aus solchen Scharen, wie auch aus ärmeren Kosaken, stellte Rasin seine Banden auf.

Es dauert lange, bis eine neue Regierung legal geworden ist. Das ist die Bedeutung des königlichen Blutes in der Thronnachfolge: das Blut ist schon selber Legalität. In der Republik aber ist es die Dauer, oder, falls es eine Adelsrepublik ist, die Dauer und das Blut der Geschlechter. Eine Regierung, die noch nicht legal geworden ist, erkennt man daran, daß sie immer und überall ihre Berechtigung nachzuweisen sucht, während eine legale Regierung sich darum überhaupt nicht kümmert. Trotz ihres bald 40jährigen Bestehens ist die Sowjetregierung noch nicht legal geworden: das ersieht man aus der ständigen, fast wütenden Propaganda, die sie auf allen Gebieten, besonders auch auf dem des Films und der Literatur, für sich macht. Zu diesem Zweck wird die gesamte Schriftstellerschaft bestochen — teils dadurch, daß die Regierung das Druckmonopol hat, und teils dadurch, daß die gehorsamen Schriftsteller höhere Einnahmen erhalten als die meisten übrigen Menschen im Staate. So ist auch dieses umfangreiche Werk, das sich als historischer Roman gibt, im Grunde ein riesiges Agitationsmaterial, welches die Notwendigkeit und die Berechtigung des sowjetischen Umsturzes erweisen will.

Es geht um den Kampf zwischen Adel und Bauern. Alle Adeligen im Buche sind dumm und böse; alle Bauern sind weise und gut. Alle Untaten des Adels werden bis ins einzelne geschildert, besonders seine Foltermethoden; dagegen werden die Untaten des Volkes so ganz nebenbei, als verzeihliche Ausbrüche, dargestellt. Kurz: alle Adeligen gehören aufgehängt. Aber war er nicht ein Schwertadel und schützte das Land? Ja, aber nur deshalb, weil es auch in Polen den ausbeuterischen Adel gab. Hängt auch euren Adel in Polen auf, und wir werden in Frieden leben! (Hier ist die ganze Außenpolitik Sowjetrußlands, die Frieden predigt und Ktieg anzettelt, in nuce enthalten.)

Ein historischer Roman ist das seltenste Kunstwerk, weil er, besser als alle Lehrbücher, uns in die Atmosphäre, in das Ambiente, in den Geist einer Epoche hinzaubert. Und ist der Roman in ihm gut, aber die Historie schlecht, wie zum Beispiel im Ivanhoe von Walter Scott, so wirkt er schädlich, weil geschichtsverfälschend. auf ganze Generationen „Denn Geschichte bedeutet für die Gesellschaft dasselbe wie das Gedächtnil für den • einzelnen Menschen, und nur durdh getreue Ueberlieferung kennen die Völker sich selbst“ (Flilaire Belloc). Zum Glück ist der vorliegende Rasin-Roman, obwohl hinter ihm eine beachtliche technische Leistung der Komposition und des Quellenstudiums steckt, kein bedeutendes Kunstwerk. Es stammt von Puschkins „Kapitänstochter“ b, nur daß eben dort lebendige Menschen agieren, während hier alle, auch Rasin selbst, in der Papierpuppe steckenbleiben. Die Tendenzhältigkeit geht so weit, daß Rasin an einer Stelle sogar von zukünftigen Kolchosen träumt! Daß dabei keine Gelegenheit versäumt wird, um von der Kirche gehässig zu reden, versteht sich von selbst.

Das mit dem Kampf gegen den Adel ist nämlich so: Der russische Dienstadel war gar kein „Adel“ im westeuropäischen Sinne — er kannte zum Beispiel nicht das Duell —, sondern war eine Art tiers-etat,wie bereits Puschkin festgestellt hat. Wenn dies? Ade! wirklich so böse und scheußlich gewesen war, wie das Buch ihn darstellt — wie kommt <i, daß er die große russisch Literatui de 19 Jahrhunderts hat schaffen können, der die Sowjetliteratur bi jetzt nichts Aehnliches an die Seite zu steller, hat? Wi kommt es, daß der auch von Söwjetrußland so verehrte Puschkin ein Adeliger, und zwar ein sehr bewußter, gewesen ist? Künstler sein heißt ja, sich gerade über die politische und soziale Eben* erheben. In Hauptmanns „Webern“, einem wahrhaft revolutionären Werk, geschieht auch dem Fabrikanten Dreißiger sein Recht, auch in ihm wird der Mensch erkannt und gestaltet. Dazu ist Herr Slobin, der Verfasser des Buches, nicht imstande. (Sloba heißt übrigens Bosheit auf Russisch.) Und so ist das Werk ein einziger fanatischer Aufruf zur Bestialität.

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