Einst war es Klopstocks Sprache, die, aus dem Erlebnis des Pietismus stammend, eine neue Entwicklung der deutschen Dichtung eröffnete. Diesem seraphischen Schwebeton gesellte sich alsbald die wilde Jagd der Bürgerschen Sprache — mit Klopstock und Bürger waren zum erstenmal die Ausmaße unserer Lyrik abgesteckt. Jene klassische Blüte der deutschen Dichtung währte etwa achtzig Jahre, die wir das Jahrhundert Goethes nennen. Die andere Blüte unserer Dichtung begann um 1880, und wieder sind es zwei, die zu einem neuen Ziele durchbrechen --Nietzsche und Liliencron. Es folgen Stephan George,
Wie leben die Sowjetmenschen nun wirklich? Dokumentarbericht aus dem Petschora-gebiet von Stefan Sturm. Marienburg-Verlag, Würzburg. 191 Seiten. Preif 9.80 DM. — Gesetz und Taktik des kommunistischen Kirchenkampfes. Von Francois Dufay, überfetzt und bearbeitet von Josef Stierli. Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main. 260 Seiten
Da Interesse für russische Literatur hat bei den Deutschen etwa mit Turgenjew und Tolstoj angefangen und ist seitdem immer giößer geworden. Aehnlich wie Ibsen, Hamsun und Strindberg, verdankt bei den Russen Ljeskow erst den Deutschen seine Weltberühmtheit. Im Gegensatz zur französischen und englischen kennt man die russische Literatur lediglich aus Uebersetzungen, und das bedeutet, daß man den höchsten Sprachschatz, die Lyrik, nicht recht erfassen kann. Deutsche und Russen sind Nachbarvölker, die zusammen meist irgendeine Situation der Haßliebe bilden: der Deutsche bewundert am Russen
Die Rehe treten erst abends aus dem Walde, denn sie sind durch ihren Mördergott, den Menschen, zu Nachttieren geworden. Sie lauschen zuvor lange am Waldsaum, ehe sie sich zum Heraustreten entschließen: sie sind sich der Gefahr wohl bewußt. (Und stets läßt der ungalante Bock der Ricke den Vortritt in die Gefahr.) Warum treten sie dann nicht lieber in der Dunkelheit aus dem Walde, statt jeden Tag die Todesviertelstunde der Dämmerung zu riskieren? — Aber darauf gibt es keine Antwort.Beim Aesen hebt das Reh alle drei Minuten seinen schönen Kopf und sichert. Hat es etwas Verdächtiges
Der Kronstädter Aufstand von 1921 wird von der bolschewistischen Geschichtsschreibung bagatellisiert und mit zwei, drei Zeilen abgetan. Wie kam es, daß die Matrosen, die eifrigsten Vorkämpfer Lenins und Helden der Oktoberrevolution 1917, sich schon nach fünf Jahren gegen das Regime wandten? Alle damaligen Beschuldigungen, sie seien von ausländischen Agitatoren dazu aufgehetzt worden, haben inzwischen ihre Glaubwürdigkeit verloren. Nein, Kronstadt war die letzte Hoffnung der Russen, daß aus dem blutigen Wirbel der Revolution doch noch ein Reich freier Menschen erstehen könnte. Gewiß,
Ich hatte bisher noch nie ein Los gekauft, weil Lotteriespielen ja ein Protest gegen das Schicksal und ein Betteln um Zufall ist. Weit eher gefiel mir die flammende Devise: „Tout ce qui arrive est adorable!“ Aber schließlich hatte ich mir doch eines gekauft — „nur um zu sehen, wie das ist“, meinte ich verlegen. — „Unsinn, mein Lieber, du willst das große Los gewinnen!“ brüllte sogleich mein innerer Wahrheitslautsprecher dazwischen. — „Das Verhältnis des Künstlers zum Gelde ist sowieso paradox“, entschuldigte ich mich. „Ich werde für die Wortzahl honoriert, die ich
Wenn ich einen Hund betrachte, gerate ich leise und unwillkürlich auf Schmelztemperatur. Schon die bloßen Schnurrbarthaare unter der Nase erfüllen mich mit Rührung. Dabei hatte ich als Fünfjähriger Angst vor Hunden; sie bellten zu laut für meine Gehörsnerven. Als wir an einem großen Hund vorübergingen, fragte mein Vater: „Hast du Angst?“ — „Ich hab' keine Angst, ich zittere nur“, sagte ich. Doch bald wandelte sich das in Sympathie, besonders als ich merkte, daß auch ich den Hunden anwedelbar war. Natürlich liebe ich auch Katzen — wer könnte ihrer genialen
Von Erdmann Hanisch. Verlag Herder, Freiburg. 306 SeitenWenn dieses Buch „Materialien zur Geschichte .. .* heißen würde, 60 wäre gegen das Werk nicht viel einzuwenden. So aber muß gesagt werden, daß eine dürftige Aufreihung offizieller Fakten noch lange keine Geschichte ist. Diese ist doch, nach Ranke, Bericht davon, „wie es wirklich gewesen i6t“, und dazu gehören perspektivische Gliederung der Vorgänge, Lebendigmachen der führenden Persönlichkeiten, Faßbarmachen der seelischen Fluktuationen und noch manches andere. Statt dessen enthält das Buch ungefähr da66elbe, was in
Wenn ein Rabe von einer Nachtigall ausgebrütet wird, lernt er dennoch keine Lieder, sondern öffnet den Schnabel zu einem unmißverständlichen „Krahi“, womit sein Verhältnis zur Welt ein für allemal ausgedrückt ist. Das Tier erbt seinen Verständigungslaut; der Mensch aber, der doch erst durch die Sprache zum Menschen wird, erbt diese nicht, sondern muß sie lernen — und bekommt er keine zu lernen, so bleibt er ein armer Kretin, wie das grausame Experiment eines antiken Königs dargetan hat. Was man aber bekommt, kann man auch verlieren. Man kann Sprachen, selbst seine Muttersprache
Das muß ein herrliches Gefühl sein, so etwas aufzurichten: man rollt einen Stacheldraht ab, postiert sich mit einer Maschinenpistole dahinter, und schon ist die Grenze fertig. Schön muß aber auch das Gefühl sein, einer Grenze die lange Nase zu zeigen — Spatzen und Äroplane wissen ein Lied davon zu singen. Denn Grenzen haben einen furchtbaren Feind, nämlich die Luft, und solange man noch nicht Wolken verhaften kann, bleibt auch die schönste Schranke etwas Mißliches. Trotzdem ist unsere Zeit sehr produktiv im Erzeugen von Grenzen, und wenn man sich's überlegt, hat ja jeder Vorteil
Vieles kann der Mensch — so tief untertauchen, daß die Fische dort im Dunkeln bereits mit Lampions herumschwimmen, so hoch nach oben schießen, daß das äußerste Hinausgreifen des Leben in den Weltenraum zweifellos die Bombe ist (worauf die Engel beim Herabschweben Obacht geben sollten) — nur eines kann er nicht: sich in den Ellbogen beißen. Generationen von Steinzeitmenschen haben sich darum bemüht, sich abgerackert, doch der Ellbogen blieb unangebissen bis auf den heutigen Tag. Mittlerweile aber benahm sich dieser spröde Körperteil sonderbar: er fing selber an zu beißen. Mit
Der gleichnamigen schönen Publikation der Tyrolia ist unmittelbar das Werk „Südtirol“ des Wiener Verlages Holzhausen gefolgt. Demselben Thema zugewandt, zeichnet jeden der beiden Bände solch eine besondere Eigenart aus, daß beide sich seltsam ergänzen und der Besitzer des einen wohl wünschen mag, auch den anderen Band sein eigen zu nennen. Gegenüber demTyrolia-Buch, das, von Oberkofler tex-tiert, eine Sammlung von meisterhaften landschaftlichen Lichtbildaufnahmen darstellt, ist das Werk, in dem sich Josef Weingartner und der akademisohe Maler Robert Zinner zusammengetan haben, von
Wer noch nie eine trigonometrische Gleichung differenziert hat, der hat etwas versäumt. Still steht die Gleichung mit Sinus und Cosinus da, wird von der Analyse durchröntgt, und man entdeckt in ihr einen geschlängelten Regenwurm, nämlich eine Kurve, die sauber auf Millimeterpapier hingezeichnet wird. Hiebei kann ein dramatischer Vorgang eintreten. Die Kurve, bis dahin eine Berg- und Talbahn, stellt raketenhaft nach oben, bekommt's mit der Metaphysik und saust ab nach „Plus Unendlichkeit“, so daß wir das Nachsehen haben und resigniert ein „+ oo“ aufs Millimeterblatt notieren. Das
Kein deutscher Schriftsteller stand seit 1945 so im Kreuzfeuer der Meinungen wie Ernst Jünger. Sein zugleich komplexes und vielschichtiges' Werk bietet breite Angriffsflächeni die Haltung des Autors, der die Parteien ignoriert und sich auch zu keiner „Weltanschauung“ bekennt, wirkt herausfordernd. Jünger stellt nicht nur Fragen, sondern er stellt durch seine Existenz vieles in Frage, zum Beispiel einen Großteil der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Das schafft bekanntlich nicht nur Freunde. Daher ist es zweckmäßig, die Kritiker Jüngers kritisch zu betrachten und
Der Ansitz auf Hasen ist die niederste Niederjagd; er kommt gleich nach dem Spatzenschießen per Blasrohr und etwa nach dem Fliegenpapier. Der edle Waidmann, welcher dem Sechzehnender nach-pürscht und oft genug Ursache hat, seine Erlebnisse den Jagdzeitsdiriften zu übermitteln, verhält sich zu dem miserablen Ansitzer auf Hasen wie ein Primaner zum Abc-Schützen mit baumelndem Schwämmchen. Die Sache ist aber auch zu einfach: man sitzt am Waldrande, der Hase springt heraus, bleibt stehen und man drückt ab. Das ist alles.In Wirklichkeit aber verhält ss sich anders. Da kann der Ansitz auf
Epen werden rezitiert, Lieder gesungen, Dramen agiert, Erzählungen aber werden, wie man sich denken kann, erzählt. Sie sind „Novellen“ — hört, was sich zugetragen hat! Unsere Zeitung ist ein monströses Entwicklungsprodukt der Erzählung. Epen schildern das Ganze, die Erzählung aber setzt das Ganze bereits voraus und hängt ihm einen charakteristischen Vorfall an, der zugleich zeigen soll, worauf das Ganze hinausläuft. — Die neuere russische Erzählung kommt von Tschechow her, der wiederum seine entscheidende formale Anregung von Maupassant empfing. Darum stehen zu Anfang dieses
Im allgemeinen sehen die Möwen bekanntlich aus, als ob sie Emma hießen, was ja schon auf bedeutendes Körpergewicht schließen läßt — für die Möwen von Jütland kann das aber kaum gelten, da man sie in ihrer Zierlichkeit eher auf „Fanny“ taxieren möchte. Sie durchhacken ihre Eierschalen in Jütland und erblicken dort Schilfstengel, Heidekraut, Sanddünen und sehr viel Wellen. Die Jütländer haben weit mehr Himmel als ebene Erde und schweifen mit ihren Gedanken durch die Luft als gute Träumer und Denker: Hans Christian Andersen und Sören Kierkegaard, die beiden Dänen, die die
Ein wichtiges, wertvolles, gerade heute aktuelles Werk. Die russischen religiösen Denker von Skoworoda (1722—1794) bis Wja-tscheslaw Iwanow (1866—1949) werden In 25 Einzeldarstellungen charakterisiert, und zwar an den entscheidenden Punkten ihres Verhältnisses zu Christus, der Kirche und dem Papsttum. Erstaunlich bei dieser jungen Philosophie ist ihre Einheitlichkeit. Die Fragen „Was' ist der Sinn des Daseins?“ und „Was ist der Sinn Rußlands?“ fließen bei ihr fast zusammen. Das einzige bodenständige Denken, das die Russen nach ihrem Aufwachen seit Peter dem Großen bei sich