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VON NEUEN BÜCHERN

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Zn dem Buch „Kierkegaard“. Von Johannes Hohlenberg. Deutsch von Maria Bachmann-Isler. Benno-Schwabe-Verlag, Basel

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Zn dem Buch „Kierkegaard“. Von Johannes Hohlenberg. Deutsch von Maria Bachmann-Isler. Benno-Schwabe-Verlag, Basel

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Kierkegaard war ein Vaterssohn, wie etwa Friedrich der Große oder Mozart, und dieser Vater war schwermütig, weil er zwei arge Versündigungen auf sich lasten wußte und in den düsteren Gedanken verfiel, daß er das Vor Gott nicht wieder gutmachen könne. Aber sein Lieblingssohn Sören sollte mit frommem Leben die Vaterschuld sühnen: so wurde auf die zarte Seele des Kindes gleich zu Anfang eine überschwere Last gelegt. Diese dämonische Schwermut war jedoch, über das Private hinaus, auch die Krankheit jener Zeitepoche, wie sie sich in der weltschmerzlichen Gestalt Byrons verkörpert fand. Sören Kierkegaard hat sein Leben lang die Schwermut in sich bekämpfen müssen. Aber gerade daraus erwuchs, im Gegendruck, seine Kraft des Humors, des Witzes, dek Scharfsinns und eine zitternde Liebe zu Gott

Das Leben Jedes bedeutenden Geistesmenschen kennt einen Absprungspunkt, wo es sich mit der Welt am stärksten berührt, um fortan den eigenen Weg zu gehen. Bei Kierkegaard war das der Abbruch seiner Verlobung mit Regine Olsen. Wir werden es wohl nie wissen, was der eigentliche Grund dieses Abbruches war — jedenfalls bedeutete er mit seinem Seelenkampf den Antrieb zu der ungeheuren Produktion Kierkegaards. Er wurde sich damit bewußt, daß er der Einzelne war und nicht so wie andere Menschen: eine schmerzliche, eine überwältigende Erkenntnis! Das Geniale an Kierkegaard besteht darin, daß er dieses Privatschicksal (welches zugleich Zeitschicksal war, denn wir leben in einer Epoche der Vermassung und Vereinzelung) als eine für alle Zeit gültige Kategorie erkennt, und nun als Der Einzelne sich mit dem Dichten und Trachten der Welt konfrontiert. Im Grunde ist das die ernstgenommene, die erlebte Lehre des Christentums davon, daß jede Menschenseele von Gott einzeln erschaffen worden ist — oder, vom andern Ende her, daß der Heiland für jeden Einzelnen von uns gestorben ist. Nun herrschte damals in Dänemark die Hegelsche Philosophie, welche vor allem ein System, und zwar eines der Bewegung und Entwicklung ist. Hier war der Einzelne nichts, ein Pünktchen in der Entwicklungslinie des Weltgeistes — und wir Heutige wissen, welch furchtbare Konsequenz der auf Hegel fußende Marxismus in Rußland aus dieser Anschauung gezogen hat. Dieses Vergessen des Einzelnen hat Kierkegaard so überzeugend bekämpft, daß die neue Kategorie seitdem als selbstverständlich in das europäische Denken eingegangen ist. Darum beruft sich auch der moderne Existentialismus auf Kierkegaard, wobei allerdings übersehen wird, daß die Kategorie des Einzelnen ohne Gott ihren Sinn verloren hat.

Die praktische Erprobung dieses Existenzbewußtseins, wo der Einzelne sich mit sokra- tischem Ernst bei jeder Handlung mitdenkt, ergab sich mit Kierkegaards zweitem großem Kampf, dem gegen die Presse. In Kopenhagen erschien damals ein satirisches Blatt „Der Korsar“, welches die neue anonyme Macht der Presse mißbrauchte, indem es verdienstvolle Männer durch Verhöhnung dem Gelächter des Landes preisgab. Alle verabscheuten das Blatt» jeder las es; keiner wagte aufzumucken. Hier nun verteidigte Kierkegaard den Einzelnen, indem er öffentlich erklärte, daß er es als Schande betrachte, bisher vom „Korsar nicht angegriffen und verleumdet worden zu sein! Worauf der „Korsar“ monatelang Kierkegaard in jeder Nummer verunglimpfte. Dennoch gelang es Kierkegaard, durch diese geistige Winkelried-Tat den „Korsar“ unmöglich zu machen. Karl Kraus hatte 80 Jahre später einen ähnlichen Kampf mit dem Wiener Erpresserblatt „Die Stunde" zu bestehen. Ich wies ihn auf diese Ähnlichkeit hin, und seitdem lieferten die Zitate aus Kierkegard wertvolle Beihilfe in dem übermenschlichen Ringen, das mit der Flucht des Erpressers auš Wien endete.

Der dritte und letzte Kampf Kierkegaards richtete sich gegen die dänische Staatskirche. Wäre Kierkegaard KStholik gewesen, so hätte er sich wohl nicht in solcher Art gegen seine Kirche gewandt. Denn unsere Kirche stellt mit ihren Heiligen und Orden solche Vorbilder der Aufopferung vor jede Seele, daß der Durchschnittsgläubige nie zufrieden mit sich selbst sein kann. Sie enthält also einen steten Ansporn zum Ernstnehmen; eben diesen vermißte Kierkegaard in der dänischen Kirche. Doch er schoß in seinem rasenden Angriff übers Ziel hinaus: denn das Christentum stellt zwar den Einzelnen durch die Lehre von der Einzelschöpfung in die höchste Bedeutung. bindet ihn aber zugleich durch das Herrenmahl in auflösliche Gemeinsamkeit mit seinen Brüdern. Das Christentum verbindet also höchste Einzigkeit und höchste Gemeinsamkeit zu einer heiligen Einheit. Kierkegaard dagegen hat noch auf dem Sterbebett den Empfang des Abendmahles von einem Geistlichen verweigert

Ebenso hat er den Begriff des Glaubens überspannt. Mit Recht sieht er den Gegensatz zum Glauben nicht im Wissen, sondern im Zweifel. Wissen ist kein Gegensatz zum Glauben, sondern dessen Unterstützung: „Wir glauben und wissen .. . , sagt der Apostel. Für Kierkegaard ist Glauben ein schwimmendes Sich- über-Wasser-Halten auf einem Zweifelsmeer von 70.000 Klaftern Tiefe. Für ihn, den schwermütigen Vorkämpfer des Einzelnen, traf dieses Bild vielleicht zu, es ist aber nicht das gültige Bild des Glaubens. Glauben als ein seliges Atemschöpfen über der Verzweiflung ist ein Sonderfall, und gerade hier steht der Einzelne nicht für das Allgemeine. Der Einzelne muß schwimmen, die Kirche aber 1st eine Arche. Der durch die Kirche gestützte Gläubige mag in deinem Glauben Schwierigkeiten haben; Schwierigkeiten aber sind noch lange keine Zweifel. Das Gefährliche an Kierkegaards genial geprägtei Glaubensvorstellung ist, daß nun seine Leser sich verpflichtet fühlen (da sie doch recht glauben wollen), ebenfalls ihre 70.000 Klafter Zweifel zu haben, und daher in Selbstquälerei verfallen. Für Kierkegaard ist Glauben das Paradox. Aber der Glaube ist, im Gegenteil, das Normale. Nicht der Glaube ist paradox, sondern die Welt — und eben darum muß sich der Glaube, will er der Welt verständlich sein, paradox ausdrücken. In ähnlicher Weise verschiebt sich bei Kiergegaard auch der Begriff der Wahrheit. Er, der den Einzelnen stets mitdenkt, sieht ganz richtig, daß volle Wahrheit gleich Wahrheit plus Wahrhaftigkeit ist. Doch indem er den Akzent immer mehr auf die Wahrhaftigkeit legt, kommt er dem Irrtum bedenklich nahe: es sei nicht so wichtig, was ein Mensch für wahr hält, wenn er sich nur aufrichtig dafür einsetzt. Das ist es eben, daß beides gleich wichtig ist und daß die geringste Gewichtsverschiebung hier Unheil stiften kann. Auch die Bolschewiken setzen sich aufrichtig ein. Das ist wie bei der moder-

nen Malerei, wo es auch nicht wichtig ist, was man malt, sondern nur, wie man es malt. Gedankliche Irrtümer werden später zu politischen und künstlerischen.

Nun kommt es nicht so sehr darauf an, worin solch ein genialer Mensch über die Schnur haut, als darauf, worin er recht hat und der Menschheit für alle Zeiten einen Dienst geleistet hat. Goethes Ausspruch „Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall“ ließe sich als Motto über Kierkegaards Lebenswerk setzen. Seine Geisteskämpfe waren von dem großen Werk seiner religiösen Reden begleitet, wo Kierkegaards Innerlichkeit wohl am tiefsten zutage tritt. Kierkegaard und Newman waren die beiden religiösen Genies des

19. Jahrhunderts.

Dieses ganze, geistig unermeßlich reiche, äußerlich arme Leben entrollt Hohlenbergs Buch in schlichter, wohlfundierter Berichterstattung. Mit guter Wahl sind überall Zitate au« Kierkeoäard in die Darstellung eingewoben. Wer Kierkegaard noch nicht kannte, dem erwächst eine hinreißende, eine unvergeßliche Gestalt vor den Augen. Und dadurch, daß er einen wichtigen Anreger des heutigen Denkens kennenlernt, lernt der Leser auch sich in diesem Denken zurechtzufmden. Es ist ein Buch, das man immer wieder zur Hand nimmt.

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