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Das dreifache Gewissen

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SÖREN KIERKEGAARD ist seit hundert Jahren tot, aber er ist seit etwa fünfzig Jahren auferstanden als Mahner und Deuter unseres Jahrhunderts. Die Ethiker, die Ontologen, die Theologen nagen an ihm herum, suchen ihn und suchen sich in ihm, deuten an ihm, dem Gewissenmacher des vergangenen Jahrhunderts und Propheten des unsrigen. Seine Bücher erscheinen immer wieder, und der Monographien gibt es kein Ende. Wie sollte man auch aus dem Philosophen, dem Theologen, Romanschriftsteller, Tagebuchschreiber banger Nächte und gelegentlichen Brief Schreiber eine Einheit herstellen?! Er war und blieb gewollt der „Larvatus“: der Mann mit der Maske. Hinter ihr verbirgt sich ebenso die Eitelkeit wie das Schamgefühl eines Genies.

Auf einen verkürzten (und darum anfechtbaren) Nenner gebracht, war der dänische Sonderling berufen, dem Menschen das dreifache Gewissen bewußt zu machen. Es gibt eben nicht nur das aus dem Guten und dem Gebot stammende ethische Gewissen, dessen wir Abendländer so müde geworden sind. Es gibt auch das ästhetische Gewissen: der einzelne vor der Gültigkeit des Schönen. Und über beide Gewissensbereiche hinaus ragt das religiöse Gewissen: die Persönlichkeit vor dem Geheimnis des Heiligen. Der Mensch als einzelner vor dem Schönen, als Allgemeiriwesen vor dem Guten und als Persönlichkeit vor dem Heiligen ergibt ein. einiges menschliches Wesen mit einem dreieinigen Gewissen. Würden wir uns des Schönen und des Heiligen ebenso gern annehmen, wie wir uns ungern dem Guten stellen, so wären wir gewappnet, den totalitären Sozialismen und politischen Idealismen christlich zu begegnen. Aus der dreieinigen Gewissenhaftigkeit dem dreieinigen lebendigen Gott verantwortlich zu sein, heißt Gott und Leben zu bestehen.

Der Eugen Diederichs-Verlag legt zum Gedenkjahr vor: „Sören Kierkegaard 1855/1955“ — über die geplante und bereits in einigen Bänden erschienene Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards in der Neuübersetzung von Emanuel Hirsch. In diesem „Prospekt“ schreibt der Uebersetzer einen Aufsatz „Kierkegaards Sprache und Stil“. Gert H. Theu-n i s s e n legt Leben und Werk in der Bedeutung für die Neuzeit in dem Artikel „Sören Kierkegaard und wir heute“ dar.

Sören Kierkegaards Gesammelte Werke, 7., . und 9. Abteilung, enthält die „Erbaulichen Reden 1843/44“. Diese sind schriftlich fixierte Meditationen, in denen sich der Verfasser selbst Rechenschaft gibt, wie seine eigene Religiosität sich vertieft — am deutlichsten sichtbar an der zweimal verfaßten Rede über das Thema „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab“. Nicht nur inhaltlich von unbeirrbarer „Erbauung“ getragen, sondern auch schriftstellerisch sind diese „Reden“ (von denen nur die theologische Abschlußpredigt — die Demis-Predigt vom 24. Februar 1844 — gehalten worden war) ein Genuß.

Die Fischer-Bücherei hat als Band, 109 eine Auswahl aus Kierkegaards Werken durch Hermann Diem herausgebracht, der auch eine ausgezeichnete Einführung unter dem Titel „Sokrates in Dänemark“ gibt (Preis 1.90 DM).

Zugleich sind erstmals Briefe Kierkegaards herausgekommen (ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Walter Boehlich, Köln. Hegner, 164 Seiten, Preis 6.80 DM). Es sind nicht viele Briefe erhalten, und vermutlich dürfte Kierkegaard auch nicht viele geschrieben haben, da sowohl seine Werke wie seine Tagebücher der eigentliche Ort waren, um das persönliche Lebensanliegen mitzuteilen. Es mag sein, daß Briefe überhaupt ein zuwenig anonymes Mittel waren, als daß Kierkegaard sich darin hätte offenbaren wollen.

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