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Antagonist des Zeitgeists

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Es gibt Verleger und Verleger: solche, die primär ein Geschäft machen wollen, und solche, die angesichts eines möglichen finanziellen Mißerfolgs dem Geist dienen möchten. Zu letzteren gehört der Verlag Eugen Diederichs. Er hatte schon in der Vergangenheit große Verdienste um die Veröffentlichung der Werke Kierkegaards in deutscher Sprache, jetzt abeT hat er ganz besondere Meriten mit der fünfbändigen Ausgabe der Tagebücher des großen Dänen in einer mustergültigen Ubersetzung und Edierung von Hayo Gerdes, im ganzen an die zweitausend Seiten — eine Herkulesarbeit, die verlegerisch vor 13 Jahren begonnen und nun zum glücklichen Abschluß gebracht wurde.

Dieses Werk muß unbedingt gelesen werden, und zwar nicht nur von einer philosophisch gebildeten Elite, sondern von einer Vielzahl interessierter Laien, die hier eine einmalige Gelegenheit haben, sich in S. K. einzulesen, denn seine Hauptwerke sind wahrhaftig keine Unterhaltungslektüre. Diese „Tagebücher“ sind freilich nicht vollständig (ein derartiges Unternehmen wäre außerhalb der Reichweite auch des selbstlosesten Verlegers), doch umfassen sie zwischen einem Viertel und einem Drittel der Aufzeichnungen Kierkegaards. Sie vermitteln dank der klugen Auswahl einen wirklichen Zutritt zum Denken eines Mannes, der über sein Grab hinaus zum entscheidenden Antagonisten unseres Zeitgeistes werden mag. Gott geb's!

Kierkegaard ist der Vater des christlichen Existentialismus, von dem der heidnische nur eine ungeheuerliche Perversion darstellt. Die Schau dieses rätselhaften, furchtbar einsamen und verkannten, im Auge der Welt unheimlich lächerlichen Mannes ging in zahlreiche Richtungen — Theologie, Philosophie, Politik, Psychologie, Soziologie. Nur die Naturwissenschaften, außer als mögliche Quelle einer Pseudoreligion, interessierten ihn nicht. Er wußte genau um unsere Dekadenz und durchschaute den ganzen, im Grunde dämonischen Schwindel der Moderne.

Dieser gequälte Mensch hatte gewissermaßen ein furchtbares Pech: ein schwieriges metaphysisches Verhältnis zu seinem Vater, eine notwendig gewordene existentielle Absage an Liebe und Ehe, eine sehr eingeschränkte Heimat und eine Kirche (durch Bischof Mynster verkörpert), die sich in Relativismus und jedem Unsinn erschöpfte, der heute bei uns durch die theologische Demimonde zu Ehren gekommen ist: Weltlichkeit, Demokratie, Progres-sismus, „Mitmenschlichkeit“, Sozialutopismus und dergleichen mehr. Doch sein Pech, sein Leiden machte ihn fruchtbar. In Frankreich wäre er wahrscheinlich glücklicher geworden, hätte er unmittelbaren Widerhall gefunden, doch wäre er nicht jener Söreri Kierkegaard geworden; der sich nur mehr an Gott wenden konnte. Die Worte der großen heiligen Therese: „Dios o nada — Gott oder nichts!“ könnte auch er gesprochen haben. (Wie Leon Bloy oder Charles Peguy, wie die von ihm inspirierten Philosophen Unamuno, Haecker oder Wust, war er ein „Pilger des Absoluten“.)

Diese Tagebücher sind eine wahre Brücke zu „S. K.“ Ja, man kann sie auf den Nachttisch legen und in ihnen blättern, was man mit seinen Werken wahrlich nicht tun kann. Man wird sich dabei vielleicht manchmal ärgern, soll sich aber gleich daran erinnern, daß nur die Wahrheit verletzend wirkt Sicherlich hat der in seinem eigenen Land noch immer wenig Geschätzte einiges nicht richtig gesehen. Seine Kritik an Luther (vom dänischen Protestantismus des vorigen Jahrhunderts determiniert) traf kaum ins Schwarze. Seine Urteile über die Demokratie sollten uns nachdenklich machen, sein Bild von der Presse die Journalisten ins Herz treffen.

Für diesen Schlüssel zu Gegenwart und Ewigkeit verdient der Verleger unseren Dank. Der rätselhafte Däne, der „Kirchhof“ hieß und uns schon daher an die Auferstehung gemahnt, erscheint da auf einmal in hellem Licht vor uns allen. Hier wird er erklärlich. Hier wird er verklärt.

DIE TAGEBÜCHER. Von Sören Kierkegaard. Ausgewählt und übersetzt von Haoy Gerdes. Eugen-Diede-richs-V erlag, Düsseldorf-Köln 1962 bis 1974. 5 Bde. mit XVI. und 445, X und 29G, X und 358, VIII und 348, X und 422 Seiten.

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