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Der fatale Sprung

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Wer noch nie eine trigonometrische Gleichung differenziert hat, der hat etwas versäumt. Still steht die Gleichung mit Sinus und Cosinus da, wird von der Analyse durchröntgt, und man entdeckt in ihr einen geschlängelten Regenwurm, nämlich eine Kurve, die sauber auf Millimeterpapier hingezeichnet wird. Hiebei kann ein dramatischer Vorgang eintreten. Die Kurve, bis dahin eine Berg- und Talbahn, stellt raketenhaft nach oben, bekommt's mit der Metaphysik und saust ab nach „Plus Unendlichkeit“, so daß wir das Nachsehen haben und resigniert ein „+ oo“ aufs Millimeterblatt notieren. Das Tolle aber ist, daß sie im nächsten Moment wiederkehren kann — dieselbe Kurve schießt von unten aus „Minus Unendlichkeit“ zurück aufs Papier und macht, als ob gar nichts gewesen wäre. Den Mathematiker, der noch ganz andere Dinge gewohnt ist, läßt das kalt, der Amateur aber fragt, was sie bei diesem ungeheuersten aller Sprünge — von Plus Unendlichkeit nach Minus Unendlichkeit! — •wohl alles erlebt haben möge. Doch darüber gibt sie keine Auskunft, die Kurve. Sie schwand ab, Richtung Himmel, um sogleich wieder hereinzustürzen aus Richtung Hölle, als ob diese Lokalitäten nicht einmal so weit voneinander entfernt lägen.

Doch immerhin will sie damit was sagen, nämlich: So etwas kommt vor... Das merkte ich, als ich neulich ein brennendes Streichholz in den vollen Papierkorb fallen ließ. Papierkörbe gehen gern in Flammen auf: diese Menge von Nichtbeachtsein, Mißratenheit und Zerknautschtheit, die sich in solch einem Korbe ansammelt, bildet einen stets bereiten Zündstoff. Gibt es etwas Komischeres als einen brennenden Papierkorb? Wie alle die Papierwische sich in heiligster Glut verzehren! — Ich mußte so lachen, daß ich darüber fast das Löschen vergaß. Dann aber fing ich an zu blasen. Schon schreckte die Flamme zurück, als sie plötzlich von einem Stoß Rechnungen wild aufloderte. Beinah hätte ich mir den Mund verbrannt — in der Tat, ich nahm wahr, daß mein Blasen jetzt nicht mehr ausblies, sondern, im Gegenteil, gerade anfachte! Nachdem ich Pluto mit Neptun (einer Wasserkaraffe) gebändigt hatte, fiel mir jene Kurve ein. Da war er ja, derselbe Sprung: das Blasen, eben noch löschend, war im Nu zum andern Extrem hinübergewechselt und führte der Flamme komprimierten Sauerstoff zu — weil sie zu groß geworden war. Ist es nicht auch so mit den Revolutionen? Bis zu einem gewissen Punkt kann man sie noch unterdrücken, dann aber kommt der fatale Sprung —- dieselbe Unterdrückung bewirkt jetzt nicht mehr Angst, sondern Wut, und schlägt ins Gegenteil um. Wie aber den Punkt staatsmännisch vorausberechnen? Ja, auf dem Millimeterpapier geht es leicht.

Da fiel mir die Geschichte mit dem amerikanischen Magazin ein, die sich nach dem ersten Weltkrieg zugetragen hatte. Diese Leute besaßen nämlich Energie: Inseratenchef und Verkaufsagent „warben“ so intensiv, daß Annoncenraum und Auflage einander zunehmend steigerten und man nicht mehr wußte, wohin mit dem Gelde. Doch indes die beiden unermüdlich weiterwerben, stürzt der Kassierer kreidebleich zum Manager und meldet, daß man vor dem Bankrott stehe! — Wie das? — Das ist so: der festbleibende Verkaufspreis deckt gerade Herstellung und Papier; jede neue Annoncenseite bedeutet bei der Millionenauflage einen Riesenverlust durch ihre Papierkosten — und dabei kommen immer mehr Inserate, immer mehr Abonnenten hinzu — Herr, die Not ist groß!... Offenbar vollzieht sich hier der Sprung in dem Augenblick, wo das, worauf gedruckt wird, im Geldwerte höher steht als das, was gedruckt Wird. Die Massenauflage beißt sich in den Schwanz, und Gewinnquelle wird Verlustquelle im selben Zustrom.

Ein gutes Beispiel für den Sprung bietet, die Geschichte Rußlands. Das Schicksal warf die Russen auf die größte Ebene der Welt: von den Karpaten bis zur Behringstraße. Solange sie nur einen winzigen Westteil dieser Ebene bewohnten, war deren Unendlichkeit ihr Unheil: immer neue Nomadenströme entsprangen im Riesenbezirk und ergossen sich ungehemmt auf die Russen — von Osten heranrollend, mordend, verwüstend. Die Russen verzogen sich nördlicher, in die finsteren Wälder, um fortbestehen zu können, und hielten durch. Dann aber begannen sie den Nomadenstrom abzudeichen und sich zu unterwerfen: ein Volk nach dem andern bis zur selben Behringstraße. Und jetzt wurde ihr Unheil, die Riesenebene, zu ihrem Glück — denn allein schon durch deren Ausdehnung war das russische Reich unbezwingbar geworden. Türken, Polen, Schweden, Napoleon usw. — sie alle fanden an der Grenzenlosigkeit ihr „Bis hieher und nicht weiter!“ und mußten geschlagen, abziehen. Wann aber sprang das Schicksal von Minus nach Plus Unendlichkeit hinüber? Um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Damals, durch die Unterwerfung der Wolgatataren, stand ganz Sibirien den Russen offen, und dieselbe Unerrneßlidikeit brachte ihnen nicht mehr den Tod, sohdern schützte ihr Leben.

Am häufigsten aber vollzieht sich der Sprung in der menschlichen Seele. Darum wird er oft in der Literatur dargestellt, und am bildhaftesten vielleicht, weil völlig Symbol geworden, in Stevensons „Schatzinsel“. Da gibt es nämlich so einen Augenblick, wo der Knabe, der sich endlich nachts in das Lager zurückrettet, jetzt im Dunkeln bemerkt, daß diese Zuflucht derweil erst recht zur Räuberhöhle geworden ist! Kein Leser, der den Sprung nicht innerlich bebend mitmachte. Doch das ist immerhin von einem Dichter ausgedacht und ein Nadit-mahr. Allein die Wirklichkeit ist fast noch gespenstischer. Es gab (und gibt) in Rußland die scheußliche Orgiensekte der Chlysty, die sich gegen die religiöse Verfolgung eine vollendete Camouflagetaktik zurechtgelegt hatten: sie besuchten eifrig die orthodoxe Kirche und ließen es an nichts fehlen. Das ist, wie wenn eine Geheimgruppe von Anarchisten aktive Mitglieder der Konservativen Partei werden. Nun gab es einen sibirischen Bauer, der wandernd die Wahrheit suchte und sie in einem besonders frommen Kloster des Urals zu finden meinte. Jetzt kommt der Sprung: der Novize merkt allmählich, daß dieses stillste, weltfernste, in sich versunkenste aller Klöster — in Wirklichkeit ein Brutherd der Chlysty ist! Und alle Riten werden strengstens beobachtet, damit selbst der Himmel nichts merkt! Der Name dieses Bauern erhielt später einen traurigen Ruhm, denn er hieß Rasputin.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt — wo vollzieht sich dieser Sprung atemraubender als in der Liebe? Springen doch die Wechselströme der Haßliebe unvermittelt von Plus zu Minus, denn auch die Elektrotechnik ist ein Bild des menschlichen Herzens. Wunderbar hat Karl Kraus diesen emotionellen Sprung gezeichnet: „Höchster Überschwang der Gefühle: Wenn du wüßtest, welche Freude du mir mit deinem Kommen bereitest — du tätest es nicht, ich weiß, du tätest es nicht!“ Doch auch die Liebe ohne Haß kennt einen Sprung, der um so unheimlicher ist, da sich seine Wertumschaltung plötzlich, aber unmerklich vollzieht. Denn auf dem Wege der Liebe kann ein Höhepunkt erreicht werden, wo das Ich, von der gewonnenen

Kraft berauscht, über sie das Ziel seiner Leidenschaft vergißt. Aber das Lieben lebt nur von der Geliebten, das Beten nur vom Angebeteten, die Verinner-lichung nur von der Entäußerung. Jetzt betet der Mensch die Anbetung an, jetzt liebt er die Liebe — er liegt vor sich selbst aut den Knien, denn es ist ja doch so groß, was er fühlt! Doch die ihrer Nahrung beraubte Leidenschaft wird gerade schrumpfend angespornt, da sie jetzt zum Allerwichtigsten geworden ist. Dies ist der Sprung und die Geburt des Genusses; denn wo die Leidenschaft des Opfers versagt bleibt, wird als letzte die der Selbstzerstörung genossen. Die Beteuerung ist noch heißer, der Gefühlserguß noch überströmender — und dennoch ist die Unendlichkeit ein Minus geworden. Wehe dem Liebenden, der über sich selbst gerührt ist! — Und auf der Ebene des Erotischen ist es der Übergang vom edelsten zum gemeinsten Typus der Lust: aus der Wonne der Einbeziehung des Irdischesten in das Höchste wird ein Genuß der Einbeziehung des Höchsten in das Irdischste.

Aber war der Teufel nicht ein Erster der Engel? Und fiel er nicht, Luzifer der Lichtbringer, vom Himmel herab als ein Blitz? Was denn sonst ist ein Sprung von Plus nach Minus Unendlichkeit, wenn nicht dieser? Dreitausend Jahre lang, so berichtet die Sage, habe er auf einem Stein gesessen und regungslos gedacht. Woran? — Nun, sicher doch an das Nu dieses Sturzes. Aber dazu reichen auch dreitausend Jahre nicht aus.

So wird aus dem Millimeterpapier das Universum und ein mathematischer Vorgang zu einem, der die Welt erschüttert.

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