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Beobachtungen im Grünen

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Die Rehe treten erst abends aus dem Walde, denn sie sind durch ihren Mördergott, den Menschen, zu Nachttieren geworden. Sie lauschen zuvor lange am Waldsaum, ehe sie sich zum Heraustreten entschließen: sie sind sich der Gefahr wohl bewußt. (Und stets läßt der ungalante Bock der Ricke den Vortritt in die Gefahr.) Warum treten sie dann nicht lieber in der Dunkelheit aus dem Walde, statt jeden Tag die Todesviertelstunde der Dämmerung zu riskieren? — Aber darauf gibt es keine Antwort.

Beim Aesen hebt das Reh alle drei Minuten seinen schönen Kopf und sichert. Hat es etwas Verdächtiges gefunden, so senkt es den Kopf sogleich wieder und äst zum Scheine weiter! Dieses Scheinäsen ist eine der wenigen Listen des Rehes. Man läßt sich nichts anmerken, damit der eventuelle Feind sicher wird und sich dadurch weiter decouvriert. Denn im Walde kommt alles darauf an, wer den anderen zuerst bemerkt: Bemerken ist hier eine Art Kostbarkeit, schon eine Art Besitz! Und nach dem Stutzen kommt das Nächste — die Gefahr

genauer zu bestimmen, damit man in der richtigen Richtung fliehen kann. Dem dient das Scheinäsen. Sich nichts merken lassen, damit man den andern besser bemerkt: wir Menschen nennen das Bauernschlauheit.

In der Brunftzeit kämpfen die Böcke miteinander. Aber das sind keine Eifersuchtskämpfe, wie man sie wohl bezeichnet hat, sondern Kämpfe der erotischen Rivalität. Tiere kennen keine Eifersucht, denn sie nehmen nie Rache am weiblichen Teil. Es ist nicht der Kampf um eine gefährdete Einheit, sondern der Kampf um , einen Platz. Dieser Kampf der Lebenslust geht ums Ueberwinden und hat mit Mordlust nichts zu tun. Hat zum Beispiel ein Hirsch den anderen totgeforkelt (was selten genug vorkommt), so weiß er in der Wut zunächst gar nicht, daß der Rivale tot ist — er läßt ihn bloß als überwunden liegen. Trifft er dann, nach ein paar Gängen, auf die regungslose Leiche, so springt er entsetzt zurück! — Zuweilen kommt es vor, daß ein Sprung Rehe friedlich auf der Wiese äst, während ein uralter, mürrischer Bock sie heimlich vom Waldrande aus beobachtet. Nun sichert er schnell nach rechts und links und springt plötzlich mit gesenktem Gehörn mitten auf sie los, die flüchtend auseinanderstieben! Es ist der Haß des Einzelgängers auf. das blühende Leben.

Oft habe ich folgendes beobachtet: Ein Fuchs sitzt auf der Wiese und fängt Mäuse. Nun tritt eine Ricke mit ihren Kitzen aus dem Wald. Der Fuchs kommt ganz sachte in die Nähe, sitzt auf den Hinterkeulen und schaut zu. Ein Idyll: manchmal äst die Ricke in knapp zwei Fuß Entfernung von ihm. Plötzlich springt die Ricke mit gesenktem Kopf (als ob sie ein Gehörn hätte) auf ihn los. Der Fuchs weicht zurück — aber nur so weit, als die Ricke ihn treibt — und bleibt wieder beobachtend sitzen. Die Ricke macht also die Angriffsgeste des Rehbocks. Vielleicht kommt das daher: Kitzgeschwister sind meist Bruder und Schwester, und oft üben sie sich im Kampfspiel, indem sie, Stirne an Stirne, einander stoßen. Weit seltsamer aber ist, daß der Fuchs vor der Ricke zurückweicht! Denn er könnte ihr doch glatt an die Gurgel fahren oder den Unterleib mit einem Biß aufreißen (wie es zum Beispiel afrikanische Schakale mit hirschgroßen Antilopen tun). Allein, er tut es nicht, weicht zurück und trollt sich schließlich. Vielleicht zeigt sich hier die Lebensgemeinschaft des Waldes. Der Fuchs wäre nicht der Sanitätspolizist und (unbewußte) Rehzüchter, der er ist, wenn er die gesunde Ricke angriffe. Sie mit ihren erwachsenen Kitzen ist natürlich viel schneller als der Fuchs; sie könnte leicht vor ihm fliehen. Aber auch die Ricke tut das nicht, in dem Gefühl: er hat hier nichts zu suchen. Und er sieht das ein.

Trifft der Fuchs auf- eine frische Menschen-hhrte, so genügt das, ihn sofort das Weite sudjsn zu lassen. Anders verhält sich das Reh;

vielleicht weil es mehr an den Boden gefesselt ist. Dem Fuchs bedeutet der Boden bloß Jagdrevier, dem Reh aber die unmittelbare Nahrung. Ich ging einmal im Sommer quer über eine kleine Waldwiesenmulde, deren steiler Nordhang von vereinzelten Buchen bestanden ist. Es war ein sonniger Nachmittag; ich setzte mich in den tiefschwarzen Schatten einer Buche. Nach einer halben Stunde kam von Westen eine Ricke mit Kitz und Schmalreh angesprungen; der Südostwind lag über meiner Fährte auf die Rehe zu. Die Ricke lief gerade auf mich (im Baumschatten Verborgenen) los und taumelte dann mitten im Sprunge zurück, als ob eine unsichtbare Gewalt sie geschleudert hätte. „Sie hat mich bemerkt!“ dachte ich. Aber nein: die Ricke lief sogleich, wie von einer Schnur gezogen, auf meine Fährte in der Mulde hin und nahm von ihr Witterung. „Vor einer halben Stunde; er ist fort“, schien sie zu erschnuppern und begann darauf ruhig — in fünfzehn Schritt Entfernung von mir! — zu äsen. Diesen ganzen Vorgang hatten Kitz und Schmalreh respektvoll beobachtet, so wie die

Assistenten eine Untersuchung ihres Professors. Nun ästen alle friedlich.

Ein guter Schuß ist dem Reh eine Wohltat, denn er erspart ihm Verkümmern, Alterssiechtum und das grausige Umschlichenwerden vom Fuchs; ein schlechter aber versündigt sich an der Kreatur Gottes. Es gibt eine Art, das Reh zu schießen, die streng verboten ist: nämlich mit dem Scheinwerfer. Denn, sonderbar, das Reh, das doch in der Flucht seine Wcsenserfüllung findet, bleibt nachts, vom Scheinwerfer getroffen, gebannt stehen. Das Scheue ist vom Licht gefesselt. Wie es zu erklärten ist, weiß ich nicht, aber dieses Bild: wie das Reh nicht

ins Dunkel flieht, sondern in das Helle starrt, ist unvergeßlich! Was da in ihm wohl vorgehen mag? Ist es von Furcht gelähmt oder ist es bezaubert? Fühlt es sich in seinem Dunkel ertappt oder fühlt es die Wonne des Lichts? Es steht da, wehrlos und schön, vom Lichte betäubt, und bietet sich der Kugel.

Ich machte abends einen Spaziergang durch eine fremde Waldgegend. In der Dämmerung traf ich auf eine Wiese, die von einzelnen dunklen Gebüschen bestanden war. Nun hörte ich Schüsse fallen. Um die Jagd nicht zu stören und selber nicht getroffen zu werden, blieb ich an einem Gebüsch regungslos stehen. Wieder fiel ein Schuß, und jetzt hörte ich ein hastiges Trappeln: ein Rudel Rehe floh von der anderen Seite an das Gebüsch heran und verhoffte nun, mit fliegenden Flanken, in dichtester Nähe. Mitten im Abendfrieden — dieses furchtsame Keuchen, dieses halbunterdrückte Fiepen, diese jammervolle Todesangst! Wegen der eventuellen Kugeln ließ ich mich zu Boden gleiten: mit einem Male Schicksalsgenosse! Dann, nach einer Weile, flohen sie wieder weiter. So ist es also, wenn man gejagt wird, so ist dem Reh zumute! Nun wußte ich's.

Wie das Weib die Schönheit der Welt verkörpert, so verkörpert das Reh alles Wundersame, was wir Wald nennen. Der Wald rauscht dem Winde nach, aber ist unbeweglich; das Reh ist lautlos, aber ganz Flucht — in den Wald hinein. Der Wald kann nicht fliehen; er muß es dulden, wenn wir das holde Wirrsal seiner durchwölbten Märchenwelt mit Stiefelsohlen betreten, doch seine Seele weicht scheu als Reh vor uns zurück. Und jeder Tritt dieser schlanken Läufe, jede Regung dieses Kopfes1 bereichert die Anmut der Welt. In seinen dunklen Augen spiegelt sich die grüne Flamme des Waldes. Ein Wald ohne Reh ist ein Wald ohne Seele.

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