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Die Stiere

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Ich war nicht das, was man furchtsam nennt, stak aber als Kind voll von Ängsten und Bangigkeiten, heimlichen, nie verratenen. Wenn ich alljährlich nach Pistyan gebracht wurde, war da unmittelbar vor Preßburg ein Tunnel, durch welchen der Zug mußte. Von Gänserndorf an hatte ich schon Angst davor und redete kurz vorher nur von den berühmten Preßburger Nußkipfeln, um hinter möglichst viele meine große Angst zu verstecken. Ob wir Zeit haben werden, welche zu kaufen bei der Fahrt von einem Bahnhof zum andnren? Vielleicht wird es wieder eine Verspätung geben? Oder glaubst du nicht? wendete ich mich an die Kinderfrau, die mitfuhr. Es schien mir jedesmal unbegreiflich, daß mein Vater während eines Gewitters den Kopf so weit zum Fenster heraussteckte, wie er es tat, um zu sehen, ob das Gewitter bald zu Ende sei. Nachts saß ich während, eines solchen auf im Gitterbett, auch noch später, da das Gewitter weggefallen war, und hielt abwechselnd die Augen oder die Ohren zu. Als ich einmal hörte, daß eine ältere, sehr dicke Frau aus unserem Bekanntenkreis während eines Gewitters am Tage in ihr Federbett krieche, um sich dort unsicht-bar und, wie sie meinte, für den Blitz unzugänglich zu machen, war ich ein wenig kuriert durch das, was mir an dieser Prozedur lächerlich erschien. Bei mir war es

Angst und darum geheimzuhalten, bei meinem Bruder Felix Furcht, von welcher jeder redete. Einmal kam er, während die Donner über das Haus hinrollten, ins Speisezimmer hereingelaufen, schreiend, der Blitz habe in seine Nase eingeschlagen. Dabei hielt er mit dem Finger den einen Naseneingang zu wie einer, der sehen will, ob er noch Luft durch den anderen bekomme. Felix war auch nicht dazu zu bringen, durch ein finsteres Zimmer zu gehen. Ich mußte es ihm vormachen zum Zeichen dafür, daß nichts „dabei sei“, was ich auch gleich tat. Wahrscheinlich auch nicht ohne Angst. Dann war die Nacht da, die große Nacht, nein: einfach Nacht, alles Große lag schon im bloßen Namen und brauchte nicht erst hinzugetan oder herausgehoben zu werden. Sie schien zunächst einmal nur für die Kinder geschaffen zu sein, damit diese schliefen. Die Eltern, alle Erwachsenen, der Kaiser, die brauchten nicht zu schlafen, die gingen abends in ihre Betten, die ja da standen und nicht zu übersehen waren, um die Gespräche des Tages fortzuführen. Ein Kind sieht der Nacht nicht ins Gesicht. Tag und Nacht sind voneinander geschieden, ohne Ubergänge, wie die beiden Worte dafür geschieden sind. Geht vom Tag etwas in die Nacht über? Für das Kind stecken die Dinge ganz in den Worten drinnen. Ich sage, die Nacht hatte kein Gesicht für das Kind. Aber auch der Nachtwächter hatte keines, zum mindesten kein ganzes oder nur den Schein davon. Welches von uns Kindern hat je dem Nachtwächter ins Gesicht gesehen, wenn er sich am Abend einstellte im Rüstzeug seines Gewerbes? Ich für meine Person habe wohl die Schultern, Bart, Mantel, Laterne, den Hund gesehen und vielleicht noch einiges andere um ihn herum, aber nicht eigentlich sein Gesicht, sein ganzes, so daß ich lange, vielleicht nie genau gewußt habe, wie so ein Nachtwächter in Wirklichkeit aussehe im Gesicht. Auf irgendeine Weise war die Nacht zwischen ihm und mir oder war Nacht in seine Züge gemischt...

Eines Morgens brach uns gerade gegenüber im Dach des Kuhstalls, der über zweihundert Kühe barg, ein Feuer aus, dem das ganze Dach samt großen Vorräten an Stroh und Heu zum Opfer fiel. Die Löschversuche dauerten den ganzen Tag über bis spät in die Nacht. Nur der vollkommenen Windstille sei es zu verdanken gewesen, daß unser Haus, der angrenzende Meierhof und alles andere ringsum nicht eine Beute der Flammen geworden waren. Wir Kinder durften von den Fenstern aus, die mit nassen Tüchern geschützt wurden, nicht zusehen und mußten den Tag über in den rückwärtigen Kinderzimmern zubringen, wohin uns auch das Essen gebracht wurde. Um uns zu beruhigen, sollte Sefka bei uns bleiben, die zuerst meines Bruders Felix Amme gewesen, dann aber Kindermädel geworden war. Sie erzählte uns an den langen Winterabenden auf Böhmisch Märchen, was niemand im Haus so konnte wie sie. Es waren immer dieselben, und es gab darunter wenige, in welchen nicht der Wassermann vorkam, der aus dem Teich emporsteigt und schlimme Kinder ins Wasser holt. Dabei sahen wir alle auf Felix, der, Bangigkeit in den Augen, an Sefkas Hals hing, wissend, daß, wenn der Wassermann einmal wirklich kommen sollte, es nur seinetwegen geschehen werde. Trotzdem daß Sefka Felix sehr liebte und . sich seinen kindlichen Zärtlichkeiten gerne hingab, glaubte sie auch heute nicht, wo doch genug Schrecken über unsere Welt ausgebreitet lag, auf den Wassermann verzichten zu können als Mittel der Macht und Einschüchterung.

Meine große Angst aber war nicht der Wassermann, den ich ganz und gar dem Felix überließ, sie ging auch nicht um das Haus und den Stall, nicht um die vielen Kühe und Kälber, von denen ich wußte, daß sie leicht zu behandeln seien und dort blieben, wohin man sie treibe. Nein, das war es alles nicht; ich möchte sagen, die Angst darum, wenn es diese gab, fühlte ich im Rücken, oder die sollten statt meiner die anderen fühlen; meine Angst vorn war um die Stiere. Fünf oder sechs blutunterlaufenen Auges standen jeweilig im Stall gleich bei den Türeingängen, gewaltige, höchst unmißverständliche Kerle, jeder mit einem Ring in der Nase und allerhand Schnür-und Kettenwerk um Nacken und Hals, so daß äu jedesmal arg klirrte, wenn sie unwillig daran zogen. Auch wurden sie nie mit den Kühen auf die Weide und in die Schwemme getrieben, sondern an gewissen Tagen der Woche war einer von ihnen im Zwinger zu sehen, wohin er träge und finster, die Knechte mit Peitsche hinter sich, durch den Hof schritt auf kurzen Beinen, die an der Türschwelle von der Last des gewaltigen Körpers jedesmal zu wanken schienen.

Was ist heute also mit den Stieren geschehen? Wo sind sie jetzt? Diese Frage ließ mich nicht los. Sie wurden alle ausgelassen, war die Antwort. Was sollte denn sonst mit ihnen geschehen?! Man wird sie doch nicht haben verbrennen lassen im Stall. Auch würden sie es vor Hitze nicht ausgehalten und sich losgerissen haben. Sie sind nicht, ließ ich mir weiter erzählen, durch das Hoftor vorn mit den Kühen zusammen auf die Straße und weiter auf die Weide, sondern am anderen Ende des Hofes durch den Zwinger auf das Feld getrieben vorden, alle fünf oder sechs zusammen. Dort kann man sie sehen, von weitem. Das alles vernahm ich wohl, konnte mir es aber nicht recht vorstellen. Nicht vorstellen, daß sie dort auch blieben, wohin man sie ausgelassen; nicht vorstellen, daß sie nicht rasend geworden und durchgegangen wären. Wohin? über alle Grenzen hinaus, wohin sie die große Wildheit ihrer Herzen treiben mochte. Wo könnte diese auch eine Grenze finden?! Oder wie könnte alles bei einem so gewaltigen Wesen anders enden als in Selbstzerstörung! So empfand ich das, was an diesem Tag des größten Schrek-kens mit den Stieren geschehen sein müsse, obwohl ich keine bestimmte Vorstellung mit dem zu verbinden mochte, was mir wie Selbstzerstörung eines rasend Gewordenen, vorkam. Es schien mir aber so, wie wenn es aus ihrer Not und Wildheit heraus keinen anderen Weg gäbe als den ins Grenzenlose und Ungemäße, als den Weg in den Abgrund, wo dann alles zu Ende wäre ..,

Am nächsten Morgen war schon im Bett meine erste Frage, ob man wisse, was aus den Stieren über Nacht geworden sei. Als man mich tröstete, sie hätten ruhig auf dem Feld, wohin sie getrieben worden wären, die Nacht überstanden und offenbar nicht daran gedacht, weiter zu laufen, sie dürften sich wahrscheinlieh gleich hingekauert haben, genau so wie im Stalle, nachdem sie genügend vom Klee, der zwischen den Stoppeln wuchs, gefressen hatten. Denn das Fressen wäre wohl auch das allerbeste gewesen, was ihnen nach allem Schrek-ken und aller Hast einfallen konnte, und so habe man sie am Morgen wiedergefunden, die einen lagerten noch am Boden, die anderen hatten sich erhoben und schnaubend den Klee zu rupfen begonnen. Als ich das hörte, war ich sehr erstaunt, bis zu einem gewissen Grade wohl beruhigt, aber noch viel, viel mehr erstaunt.

Und dieses Staunen ist mir geblieben, das Staunen darüber und über ähnliches hat mich im Grunde genommen das ganze Leben lang nicht verlassen: daß die Kreatur aus ihrem gewaltigen Drange heraus sich nicht zerstöre oder zerstückle, im Nie-Endenden, Endlosen das Ende suchend, sondern daß sie bleibe und überstehe, Maß und Gewalt bewahrend. So überstanden es und blieben, kauend und wiederkauend, die Stiere auf dem Felde, unberührt von meiner Angst, unberührt vom Schrecken der durch das Feuer aufgebrachten Menschen.

Ein Menschenalter mußte vergehen, von den Stunden der Kindesangst an gerechnet,'' bis ich fühlend wußte, daß nur um des Maßes und der Gestalt willen die Wesen nicht am Abgrund der Menschenangst, an dessen Rand, hängenblieben, hängend sich verzerrten und entstellten. Wenn die Welt nur aus Angst, aus der Angst eines Dämons, entstanden und gebildet, oder wenn die Mitte der Welt Angst wäre und nichts anderes, so würde sie entweder im. Augenblick ihres Entstehens wieder vergangen sein oder sich selbst zerstört haben, wie ich in meiner Angst um die Stiere gemeint hatte, daß diese sich selbst zerstören müßten im Grenzenlosen jetzt, da man ihnen die Ketten genommen. Darum allein, um der Gestalt, um des Maßes, um des Überstehens und der Dauer willen ist im göttlichen Schöpferwesen und in allem, was daraus abgeleitet werden soll, das Element der Freiheit enthalten. Oder so berühren wir das göttliche Wesen nicht nur mit unserer Angst, sondern nehmen daran auch mit unserem Verlangen nach Freiheit, teil. Aus dem Buch „Die zweite Fahrt“, mit Bewilligung des Eugen-Rentsch-Verlages, Zürich.

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