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Wenn der Ellbogen durcli ist

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Vieles kann der Mensch — so tief untertauchen, daß die Fische dort im Dunkeln bereits mit Lampions herumschwimmen, so hoch nach oben schießen, daß das äußerste Hinausgreifen des Leben in den Weltenraum zweifellos die Bombe ist (worauf die Engel beim Herabschweben Obacht geben sollten) — nur eines kann er nicht: sich in den Ellbogen beißen. Generationen von Steinzeitmenschen haben sich darum bemüht, sich abgerackert, doch der Ellbogen blieb unangebissen bis auf den heutigen Tag. Mittlerweile aber benahm sich dieser spröde Körperteil sonderbar: er fing selber an zu beißen. Mit scharfem Zahn der Zeit nagte er an jener zuerst glänzenden, dann schwachen Stelle, wo unser Anzug sterblich ist, bis endlich die Wunde aufklaffte. Er, der Ellbogen, setzt sich durch und erobert sich seinen Platz an der Sonne.

Das Schlimme daran ist, daß man es zunächst gar nicht merkt (außer wenn man verheiratet ist, denn sonst sagt es einem niemand). Ahnungslos machst du die schönste Konversation, scharf wie ein Messer durchschneidet dein Arm die Luft, erfüllt von unbändigem Stolz — doch wenn dabei der Ellbogen durch ist, so ist es schon nicht mehr das. Die Hörer hängen nicht mehr an deinen Lippen, sondern an deinem Ellbogen, oft sogar mit träumerischem Gesichtsausdruck. Ach, das wahre Mittel zum Vorwärtskommen sind ja gar nicht die Beine! In der Naturgeschichte fehlt zwischen dem Menschen mit seinen pedes apostolorum und dem Nasobem, das bekanntlich auf seinen Nasen einher-schreitet, noch unbedingt ein Tier, welches lediglich durch den Gebrauch der Ellbogen sein Fortkommen findet. Und seltsam: wer ihn am kräftigsten gebraucht, bei dem ist er nie durch; wer aber unten, durch ist, ja, bei dem ist es auch der Ellbogen.

Wenn der Ellbogen durch ist, kommt es dir vor, als ob du den Anzug eben erst hast machen lassen ... Zum Maßschneider gehen ist dasselbe, wie ein junges Ehepaar besuchen: alles ist voll Gegenwart, voll Zukunft; alles neu angeschafft, die Gläser und auch das Glück. Maßschneider und Flickschneider, das ist ein Unterschied wie zwischen Geldbriefträger und Gerichtsvollzieher — diese Berufszweige haben verschiedene Weltanschauungen. Aber nehmen wir nicht alle in der Jugend das Maß zu einer neuen Welt, um dann als Flickschneider zu enden, mit dem Blick über die Brille suchend nach passenden Resteln...? — Was für einen Stoff werden wir nehmen? fragt derSchneidermitder Zentimeterschlange um den Hals, und hinter ihm hängt an der Wand die Gruppen-photographie seines Jahrganges in der Schneiderakademie: das erste Glied sitzt mit unterschlagenen Beinen, alle halten Bierseidel in der Hand, und jeder blickt forsch in die Welt, ein Teufelskerl. Jeder mit einem Gesichtsausdruck, als wüßte er, daß er genau so dreißig Jahre lang hinter Glas hängen werde. Und wieviel Stoffe er hat! Gleich denen des Schriftstellers liegen sie in Büchern gesammelt, nur daß jedesmal der Preis für den Meter doppelbreit, daruntersteht, während der Schriftsteller sein Zeilenhonorar für sich behält. Alle sind sie unendlich dauerhaft und dabei vornehm (denn auch alle Dinge, außer den Streichhölzern, suchen die Fiktion des Ewigwährens aufrechtzuerhalten), und du wählst einen, der dir noch dazu „gut. steht“, wie der Schneider wiederholt versichert. Innerlich aber ahnst du, daß es ganz gleichgültig ist, was da um deine Geburtsfehler herumhängt. Meiner Katze „Fischl“, ja, der steht ihr Anzug wirklich gut und ist dabei fürs ganze Leben, so daß ihr die Ellbogen nie durch sind — vielleicht weil sie sie täglich beißt und mit der Zunge ableckt. Aber schon schlägt der Schneider ein neues Buch des Lebens auf, und dieses widerspricht eigentlich der Ewigkeit, denn dort siehst du die Moden: lauter edle Herren und Jünglinge stehen da, jeder scheinbar mit etwas beschäftigt — der eine wfll Spazierengehen, der andere hat einen Freund getroffen, der dritte lehnt an ein Auto und macht mit den Insassen sprühende Konversation — aber in Wirklichkeit halten sie sich immer so, daß man den Anzug in jeder Einzelheit sehen kann. Sie sind ein wenig tot, und dennoch denkt man neidvoll: d i e Leut' leben!... Ich kannte einen Schotten, einen älteren rothaarigen Herrn: wenn der getrunken hatte, so bildete er sich ein, solch ein edler Jüngling aus dem Modejournal zu sein. Dieses war sein Idealreich, in das er auf den Flügeln des Alkohols aufstieg. Mit schwimmend-verklärtem Blick wies er auf eine nichtvorhandene Orchidee in seinem Knopfloch und flüsterte: „Look here!...“ und dann nach einer Pause: „Haben Sie meinen neuen Schimmel im Hydepark gesehen?“ — O das ist ein makelloses Reich, wo die einzigen Falten die Bügelfalten sind, wo das Lebensproblem „einreihig oder doppelreihig?“ lautet, und es völlig ausgeschlossen ist, daß der Ellbogen durch ist. Und jetzt mußt du aus diesem fashionablen Olymp den Gott wählen, nach dessen Bilde du geschaffen sein willst. Bist du noch in den Jahren, wo der Anzug „sportlich“ sein darf, oder bereits in jenen, da er schon ein wenig onkelhaft zugeschnitten wird — älterer Bonvivant mit dem verzichtenden Lächeln im dritten Akt, oder gar polternder Alter? Und wie der Schneider jetzt maßnehmend vor dir kniet, hörst du deutlich, wie er dem Aufschreiber „leichtes O. B.!“ diktiert — so daß du, aus allen Olympen gefallen, ihm spontan eine leichte O. F. geben willst. Aber der innere Schutzmann hält dich zurück und sagt: Erstens hast du kein O. B. und zweitens will er es doch gerade verdecken ... Und dann, wenn der Anzug fertig ist, führt dich der Schneider vor einen fünfteiligen Standspiegel, so daß man sich von hinten sehen kann, als ob man gar nicht man selbst wäre, sondern ein ganz anderer ... phantastischer Anblick! Und du gewahrst einen fremden Kerl, der jede deiner Bewegungen sklavisch nachmacht. Ein kurzsichtiger Freund von mir wies bei solcher Gelegenheit auf jenes fremde, ungerufene Individuum und fragte angewidert: „Sagen Sie, bitte, wer ist das eigentlich?“

Doch mit der Zeit stellt sich's heraus, daß du es selber bist — insbesondere wenn der Ellbogen durch ist. Schnell sprichst du zu deinem Herzen: „Macht nichts, wir setzen einen Flick drauf! O der wird noch besser als vorher ...“ Aber im Innern weißt du, daß er eigentlich schon hin ist, der Anzug. Natürlich, ein Flick, der findet sich: bekommt doch jeder Anzug ein Stoffrestchen ein kleines memento mori, in die Wiege gelegt, für den Fall, daß — Oder man nimmt einfach hinten ein Stück von der Weste. Denn die ist nicht so wie der Ellbogen, die hält wirklich ewig — und muß eben darum für ihn herhalten. Das hat man vom Bravsein.

Doch was hilft das alles? Dieser Anzug, mit dem du in Paris gewesen bist, in dem dein Herz geklopft hat, der so manche Nachtwache neben deinem Bett hielt — er ist fortan ein Wesen, das dich bloßstellt. Oder kommt etwas Wildes in deine Augen, willst du aufbegehren, dein Jahrhundert mit durdien Ellbogen in die Schranken fordern? Ach, es ist ohnedies zerfetzt genug, sie könnten bald nicht mehr auffallen! Bis dahin aber tritt mit dem Ellbogen sein moralischer Nutzen zutage. Denn wenn du wissen willst, was du selber von dir denkst, so gib eine Heiratsannonce auf: da wird sich schon herausstellen, was du für ein vornehm denkender, sonniger Charakter bist, Vermögen Nebensache. Willst du aber wissen, was die anderen “on dir denken, so geh nur ruhig auf die Straße... wenn der Ellbogen durch ist.

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