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Digital In Arbeit

Der Brief

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Du mußt zugeben, daß du es schön hast. Von deinem Tisch aus kannst du auf die Straße sehen, auf der alle, die zu dir wollen, kommen müssen. Du kannst also nicht überrascht werden, wenn es klingelt.

Das ist schön, wenn du es nicht wissen solltest. Auch die Berge, die du hinter der Straße siehst, die sanften besonnten Hänge, auf denen der Wein gedeiht, auch die sind schön. Und du kannst sie sehen von deinem Tisch aus. Wehn du von deiner Arbeit aufblickst oder von einem Buch, um einen Gedanken durchzukosten. Ja, dann mag dein Blick gerade auf die Berge fallen. Es ist vielleicht Herbst und das Weinlaub glüht und die Buchen in den Wäldern dahinter brennen rot.

Dann hast du den weiten Himmel vor deinem Fenster und den letzten Gruß der Sonne am Abend. Den ersten Stern der Nacht. All das ist schön. Aber du magst es nicht wissen. Du willst gar nichts wissen, als eben das eine, das du gerade nicht weißt. So steht es mit dir. Eine schlimme Sache.

Auch den Briefträger siehst du auf der Straße kommen. Und damit fängt eigentlich die Geschichte an. Mit dem Briefträger. Ein eigentümliches Wesen ist er, ein Bote des Schicksals. Jeden Tag bringt er dir einen Teil voll Bedeutung zu, Gutes und Böses, Heiteres und Trauriges. Er ist eine Figur im Spiel der Mächte um dich. Nichts Böses über die Briefträger!

Ja, auf ihn wartest du. Jeden Tag siehst du ihn kommen. Mit seinem Pack Briefen unter dem Arm. Dann schrillt deine Klingel, du gehst an die Tür und tust ein wenig überrascht. Ohne dies bißchen Theater geht es nun einmal nicht.

Der Mann hat einiges für dich. Eine ganze Menge. Auch unterschreiben mußt du etwas. Dann tippt er mit dem Finger an die Mütze und geht. Das Schicksal ist bei dir eingekehrt. Sein Auftrag ist erfüllt.

Du bist ein Mensch, der Spannung liebt. Spannung ist das halbe Leben, sagst du. Deshalb siehst du nicht gleich durch, was du alles bekommen hast. Nein, du öffnest Brief um Brief, liest jeden aufmerksam. Manche Stellen sogar zweimal. Das erhöht die Spannung. Und dort, wo man dir etwas Angenehmes sagt, siehst du noch ein drittes Mal hin, um es dir einzuprägen. Leugne es nicht.

Man schickt dir Theaterkarten, Briefe mit wohlgesetzten Beistrichen, ein Buch, damit du es lesen kannst, und Zeitungen, in denen dein Name steht, neben einigem anderen aus der weiten Welt, das weniger wichtig ist.

Und immer möchtest du schon vom nächsten Brief wissen, ob es jener ist, auf den du allein wartest. — Aber nein, er ist nicht dabei. Nirgends siehst du die eigenwillige, skurrile Schrift, die andere kaum zu lesen vermögen. Nur dir ist sie offen und ohne Geheimnis. Also der Brief kam nicht. Umsonst das Spiel mit der Spannung. Umsonst die Mühe und das Herzklopfen. Ach, es ist ein schlechter Tag.

Auf Briefträger ist kein Verlaß.

Am anderen Tag kommt er wieder. Diesmal bringt er sogar Geld. Es könnte für ein, zwei Wochen reichen — und nicht nur für dich allein, Du kannst nun wieder Kaffee kaufen, den du einige Zeit entbehren mußtest, und Tabak für deine Pfeife, die kalt ist. Vielleicht auch eine bestimmte, eine ganz bestimmte Zigarettensorte. Falls es nötig sein sollte.

Wenn du aber das Spiel mit den Briefen spielst, jenes spannungsgeladene Spiel, gehst du leer aus.

Briefträger sollte man auswechseln können.

Der nächste Morgen jagt dich schon früh auf. Ein schlechtes Bett hast du, wirklich, man muß es einmal sagen. Aber heute müßte es sein, du spürst es. Heute müßte der Brief kommen. Die ganze Zeit treibst du dich am Fenster herum, gießt die Blumen dreimal, ohne es zu wissen, und malst verschnörkelte Ornamente auf die — hm — nicht ganz frisch geputzten Scheiben.

Die Straße ist sicherlich schön, wie sie daliegt, weiß mit einer sanften Biegung, aber doch ein wenig zu kurz. — Du kannst den Briefträger nicht früh genug sehen. Eine Ewigkeit dauert es, bis er bei dir ist. Wieder bekommst du deinen Teil überreicht, gleichgültig, mit beruflicher Freundlichkeit. Und diesmal pfeifst du auf die ganze Spannung. Gleich in der Tür siehst du nach. Einmal und noch einmal. Aber der Brief fehlt. Der einzige Brief, auf den du wirklich wartest. Der Mann steigt langsam die Treppe hinunter. Feierlich und mit Würde, als hätte er eben ein Todesurteil überreicht. Er hat Zeit. Man sieht es. Schließlich ist er im Dienst.

Noch immer stehst du in der Tür und siehst ihm nach. Nein, auch diesmal war es nichts.

Sagten Sie was? fragt der Briefträger von unten herauf.

Nein, nein, nichts, nur so für mich.

Dann fällt die Tür hinter ihm zu. Man könnte sagen, mit einem dumpfen Knall. Nichts weiter. Eine Tür fällt zu. Und du weißt plötzlich, wie beziehungsreich das sein kann. Eine Tür fällt ins Schloß. Stille. Aus. Gewiß nichts Großartiges. Aber man kann sich allerlei dabei denken. Sehr viel sogar, wenn man den Kopf dazu hat.

Und weil du nicht ewig in deiner Tür stehen kannst, krachst du auch diese zu,

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