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Flucht aus der Heimat

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In den kleinen Häusern lasen die Pächter für die Reise nach Westen ihre Habseligkeiten aus, die Habseligkeiten Ihrer Väter und Großväter. Die Männer waren erbarmungslos, weil die Vergangenheit zerstört war, aber die Frauen wußten, daß in den kommenden Tagen die Vergangenheit sie wieder und immer wieder anschleichen würde. Die Männer gingen in die Schuppen und Scheunen.

Dieser Pflug, diese Egge — weißt du noch, im Krieg haben wir Senf gepflanzt? Weißt du noch, jemand wollte, daß wir diesen Gummibaum einsetzen, den sie Guayule nennen? Das bringt Geld, hat er gesagt. Hol die Werkzeuge raus — da kriegen wir ein paar Dollars für. Dieser Pflug hat achtzehn Dollars gekostet plus Fracht — Sears Roebuck.

Zaumzeug, Karren, Säer, kleine Bündel von Hacken. Hol sie raus. Schmeiß sie in den Hof. Lad sie auf den Wagen. Fahr sie in die Stadt. Verkauf sie für jeden Preis. Verkauf auch das Gespann und den Wagen. Wir brauchen nichts mehr.

Fünfzig Cents ist nicht genug für so 'nen guten Pflug. Der Säer hat achtunddreißig Dollars gekostet. Zwei Dollars ist zu wenig. Ich kann ja nichts anderes machen. Schön, also nimm ihn und die ganze Bitterkeit dazu. Nimm die Pumpe und das Zaumzeug. Nimm die Halfter und die Zügel und die Ketten. Nimm das Stirnband mit den kleinen Glasjuwelen, roten Rosen unter Glas. Das habe ich für das Beschneiden des Braunen gekriegt. Weißt du noch, wie er im Trott seine Füße gehoben hat?

Alter Plunder, aufgehäuft im Hof.

Ein Handpflug ist nicht mehr zu verkaufen. Fünfzig Cents für das gewogene Metall. Schneidescheiben und Traktoren, das ist das Zeug, was man heute braucht.

Jaja, nimm's nur — nimm den ganzen Lumpenkram — und gib mir fünf Dollars. Du kaufst nicht nur Lumpenkram, du kaufst auch zerlumpte Leben. Und noch mehr — du wirst's schon sehen — du kaufst den Kummer und die ganze Bitterkeit. Du kaufst einen Pflug und pflügst deine eigenen Kinder unter, du kaufst dien Geist und die Waffen, die dich hätten retten können. Fünf Dollars, nicht vier. Ich kann ja nichts machen. Also, nimm sie schon für vier. Aber ich warne dich, du kaufst was, womit du deine eigenen Kinder unterpflügst. Und du siehst's nicht. Du kannst's nicht sehen. Nimm's schon für vier. Na, und was gibst du für das Gespann und den Wagen? Zwei gute Braune — sie passen zusammen, in der Farbe, im Gang, in jedem Schritt. Sie passen zusammen, wenn sie ziehen und ihre Muskeln an Lenden und Schenkel sich spannen. Und am Morgen, wenn das Licht auf sie fällt, das braune Licht. Sie schnüffeln über den Zaun zu uns herüber, und die steifen Ohren wedeln, um uns zu hören. Und dann der schwarze Schopfl Ich habe ein Mädchen. Das flechtet den Pferden immer Mähne und Schopf und bindet kleine rote Schleifen hinein. Das macht ihr Spaß. Aber jetzt nicht mehr. Ich könnte dir eine lustige Geschichte erzählen über das Mädchen und unsern Braunen. Du würdest lachen. Das eine Pferd ist acht, das andere ist zehn, aber sie hätten Zwillingsfohlen sein können, so wie sie zueinander passen. Sieh doch nur — die Zähnel Ganz und gar gesund. Kräftige Lungen. Saubere und gesunde Hufe. Wieviel? Zehn Dollars? Für beide? Und den Wagen? Ach, du guter Gott! Eher würde ich sie doch erschießen und als Hundefutter verkaufen. Na, nimm sie schon! Aber schnell! Ich sage dir, du kaufst ein kleines Mädchen, das den Pferden die Schöpfe flechtet, das sein eigenes Haarband nimmt, um ihnen Schleifen zu binden, das zurücktritt, den Kopf geneigt, und sich dann die Wange von ihren weichen Nüstern reiben läßt. Du kaufst viele Jahre der Arbeit, der Plackerei in der heißen Sonne, du kaufst einen Schmerz, der keine Worte hat. Aber paß nur auf, du kriegst eine Zugabe zu diesem Haufen von Lumpenkram und den braunen Pferden, ein Paket von Bitterkeit, von Bitterkeit, die wachsen und sich in deinem Hause breitmachen wird. Wir hätten dich retten können, aber du hast uns im Stich gelassen, und bald wirst du im Stich gelassen werden und dann ist keiner von uns mehr da, um dich zu retten.

Und die Pächter kamen heim, die Hände in den Taschen, den Hut ins Gesicht gezogen. Manche kauften sich eine Flasche und tranken sie schnell leer, denn sie wollten hart werden im Innern und Widerstand zeigen und wollten nicht wanken. Aber sie lachten nicht und tanzten nicht. Sie sangen nicht und zupften nicht die Gitarre. Sie gingen zurück zu ihren Häusern, die Hände in den Taschen und die Köpfe gesenkt, und wirbelten mit ihren Schuhen den roten Staub vor sich her.

Vielleicht können wir neu beginnen, dort drüben in dem reichen Land — in Kalifornien, wo die Früchte wachsen. Wir werden neu beginnen.

Aber du kannst nicht mehr beginnen. Nur ein kleines Kind kann beginnen. Du und ich — wir sind so, wie wir immer gewesen. Der Ärger eines Augenblicks, die tausend Bilder — das sind wir. Das Land, dieses rote Land, sind wir. Und die Jahre der Überschwemmung und die Jahre des Staubs und die Jahre der Trockenheit sind wir. Wir können nicht neu beginnen. Die Bitterkeit, die wir dem Lumpenmann verkauft haben — schön, er hat sie jetzt, aber auch wir haben sie noch. Und als die Landbesitzer uns befahlen zu gehen, das sind wir. Und wie der Traktor unser Haus gerammt hat, das sind wir — bis wir tot sind. Nach Kalifornien oder irgendwohin — jeder ein Trommelmajor, der eine Schmerzensparade anführt, die marschiert, marschiert mit unserer Bitterkeit. Und eines Tages werden die Armeen der Bitterkeit alle in derselben Richtung gehen. Und sie werden alle zusammen marschieren, und dann wird es Tod und Schrecken geben.

Die Pächter schlurften durch den roten Staub heim zu ihren Farmen.

Als alles, was verkauft werden konnte, verkauft war, Herd und Bettstellen, Tische und Stühle, kleine Eckschränke und Wandregale, Rohre und Wassertanks, hatten sie noch immer einen Haufen von Habseligkeiten. Und die Frauen saßen dazwischen, drehten jeden Gegenstand um und um, blickten ihn an von unten und von oben, von hinten und von vorn, Bilder und Spiegel — und hier ist noch eine Vase.

Du weißt doch ganz genau, was wir mitnehmen können und was nicht. Wir werden draußen schlafen müssen — ein paar Töpfe zum Kochen und zum Waschen, Matratzen und Kissen, Laternen und Eimer und ein Stück Segeltuch. Das nehmen wir als Zelt. Diese Kerosen-büchse — weißt du, was das ist? Das ist der Herd. Und Kleider — ja, nimm all die Kleider mit. Und das Gewehr?

Ohne Gewehr würde ich niemals fahren. Wenn wir keine Kleider und keine Schuhe und kein Essen, ja selbst keine Hoffnung mehr haben, dann haben wir noch immer das Gewehr. Wie Großvater kam — habe ich dir das nicht erzählt? —, hat er nur Pfeffer und Salz und ein Gewehr gehabt. Nichts weiter. Also das kommt mit. Und eine Flasche für Wasser. Dann ist die Kiste aber auch voll. Ja, an die Seiten vom Anhänger, und die Kinder können sich in den Anhänger setzen und Großmütter auf die

Matratze. Werkzeuge, eine Schaufel, eine Säge, einen Schraubenzieher und eine Zange. Natürlich, auch eine Axt. Diese Axt haben wir vierzig Jahre lang gehabt. Sieh nur, wie abgenützt sie schon ist. Und Stricke, natürlich. Der Rest? Den lassen wir da — oder verbrennen ihn.

Und die Kinder kommen.

Wenn Mary ihre Puppe mitnimmt, die dreckige zerlumpte Puppe, will ich meinen Indianerbogen mitnehmen. Den brauche ich. Und diesen Stock — der ist so groß wie ich. Vielleicht habe ich ihn mal nötig. So lange habe ich den Stock schon gehabt — 'nen Monat oder vielleicht sogar schon ein Jahr. Ich muß ihn mitnehmen. Wie ist's eigentlich in Kalifornien?

Die Frauen saßen inmitten der aufgehäuften Dinge, drehten sie um und um, betrachteten sie von unten und von oben, von hinten und von vorn. Dieses Buch. Das hat Vätern gehört. Er hat's sehr gern gehabt. Pilgrims Progreß. Hat viel drin gelesen. Es steht sogar sein Name drin. Und seine Pfeife — die stinkt noch immer. Und dieses Bild — ein Engel. Bei den ersten drei Kindern habe ich's immer angeschaut, eh sie gekommen sind — hat aber auch nicht viel geholfen. Meinst du, wir können diesen Porzellanhund noch reinkriegen? Tante Sadie hat ihn auf der Ausstellung in St. Louis gekauft. Siehst du? Sie hat sogar was drauf-geschrieben. Nein, ich glaube nicht. Hier ist ein Brief, den mein Bruder geschrieben hat an dem Tag, eh er gestorben ist. Und hier ist ein Hut von früher. Die Federn habe ich nie verwenden können. Nein, es ist ja kein Platz mehr.

Wie sollen wir leben ohne unser Leben? Woher sollen wir wissen, daß wir's sind — ohne unsere Vergangenheit? Nein. Laß es da. Verbrenn's.

Sie saßen da und sahen es an und verbrannten es bereits in ihren Köpfen. Wie wird es sein, wenn man nicht weiß, was für Land da ist vor der Tür? Wie wird es sein, wenn man nachts aufwacht und weiß — und weiß, daß der Weidenbaum nicht mehr da ist? Kann man denn leben ohne den Weidenbaum? Nein, man kann's nicht. Der Weidenbaum bist du. Der Schmerz auf der Matratze da — dieser furchtbare Schmerz —, das bist du.

Und die Kinder — wenn Sam seinen Indianerbogen und seinen langen runden Stock mitnimmt, muß ich auch zwei Sachen mitnehmen dürfen. Ich nehme das weiche Federkissen mit. Das ist meins.

Plötzlich wurden sie unruhig. Jetzt müssen wir schnell los. Können nicht warten. Und sie häuften ihre alten Sachen in den Höfen auf und zündeten sie an. Sie standen da und sahen zu, wie die Sachen brannten, und dann luden sie hastig Ihre Wagen voll und fuhren davon, in den Staub hinein. Und als die Wagen längst verschwunden waren, hing der Staub noch immer in der Luft. Aus dem Roman „Die Früchte des Zornes“. Deutsch von Klaus Lambrecht, Humanitas-Verlag, Zürich 1940.

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