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Über das klassische Drama

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Zwei Freunde, der Friedensrichter Poluech- tow und Fintifleew, Oberst im Generalstab, saßen bei einem gemütlichen Imbiß und sprachen über die Kunst.

„Ich habe Taine, Lessing… was weiß ich noch was gelesen“, sagte Poluechtow. „Meine Jugend verbrachte ich inmitten von Künstlern, auch selbst schrieb ich, und ich verstehe vieles, weißt du? Ich bin kein Künstler und kein Schauspieler, aber ich habe für diese Dinge das Herz auf dem rechten Fleck. Auf einen Blick kann ich beurteilen, was falsch und was richtig ist. Mich kann keiner hinters Licht führen, selbst eine Sarah Bernhardt nicht. Ach, warum trinkst du nicht, Brüderchen? Ich habe wirklich nichts anderes. Ich glaube, meine Frau hätte noch etwas. Sie sperrt aber alles ab. Nun, wo blieb ich stehen?“

„Vergib, ich bin schon satt, Brüderchen, danke. Was ist also mit unserem russischen Drama? Es stimmt schon, es ist tief gesunken“.

„Natürlich, du mußt selbst zugeben, Philipp, die Dramaturgen und Schauspieler von heute geben sich mächtig Mühe, sich möglichst unverständlich auszudrücken, wollen Leben und Realismus zeigen, uhd beides ist nicht zu verstehen. Auf der Bühne siehst du, was du im Leben auch erlebst. Brauchen wir das? Wir brauchen Expressionismus, Effekt! Das Leben hast du sowieso satt, daran bist du längst gewöhnt, du brauchst dieses … etwas, das deine Nerven aufpeitscht, deine Organe zu innerst durcheinander wühlt. Früher, da sprachen die Künstler mit tiefer, unnatürlicher Grabesstimme, schlugen sich mit Fäusten auf die Brust, brüllten und versanken durch die Erde, aber ės war Expressionismus. Und in ihren Worten war Färbe und Flamme, die brannten, Und Wir brannten mit! Sie redeten von dėr Pflicht, von Humanität, von der Freiheit. In jedem Akt sahst du Entsagung, heldenhafte Menschenliebe, besessene Leidenschaft. Und jetzt? Du schaust auf die Bühne und siehst . uff! Irgendeinen Vagabunden, einen Wurm in zerrissenen Hosen» hörst dumrnės Zeug schwatzen. Irgendein Spaginski oder Newe- schin. Man hält diesen ekelhaften Menschen für ein Genie, aber bei Gott! — Käme er mir nur zwischen die Finger, hier — weißt du, so nach § 119, auš innerster Ueberzeu- gung auf drei oder vier Monate, so weißt du ,hinter Schloß und Riegel'!“ Der Richter brach ab.

Draußen bei der Tür klingelte es. Ins Zimmer trat alsbald ein kleiner rotbackiger Gymnasiast. Scheu näherte er sich dem Tisch, machte eine unbeholfene Verbeugung und reichte dėm Friedensrichter einėn Brief. „Mama läßt Sie schön grüßen, Onkel“, sagte er, „Sie Wollte, daß Sie diesen Brief gleich lesen.“

Pöluechtow riß das Kuvert auf, nahm die Brille; laut schnaufend überflog er dėn Brief.

„Sogleich, mein Seelchen“, sagte er und erhob sich. „Gehen wir, Kleiner … Entschuldige, Philipp, ich lasse dich auf eine Sekunde allein".

Der Richter nahm den Gymnasiasten bei der Hand, die Seiten seines Schlafrockes aufraffend, führte er deft Knaben in das anliegende Zimmer. Einen Augenblick später vernahm der Oberst sonderbare Laute. Des Kindes Stimme flehte, beteuerte. Bald wechselten die Beteuerungen mit herzzerreißendem Brülleft und endeten in lėišėm Wimmern.

„Onkelchen, ich werde nicht mehr! Oh, ich tu es nicht mehr“, hörte der Oberst. „Liebster Onkel — oh, au, au … Onkelchen, ich werde nicht mehr. Bei Gott, ich .,.“

Nach drei Minuten würde ės still im Nėbėflraum. Die Tür öffnete sich und hereintrat der Friedensrichter Poluechtow. Hinter ihm kam der Junge. Große Tränen zitterten in seinen Augen, das Schluchzen saß ihm noch in der Kehle, seine Lippen bebten. Den Mantel zuknöpfend, scharrte das Kind mit dem Fuß, trocknete mit dem Aermel die Augen Und ging unsicheren Schrittes hinaus. Man vernahm das Zuschlägen dėr Türe.

„Was war das bei dir?" fragte der Oberst.

„Nichts von Bedeutung. Die Schwester bat mich in dem Brief, den Knaben zu verhauen; er hatte einen Zweier in Griechisch“.

„Was verwendest du beim Verprügeln?“

„Einet! Riemen… das ist das Beste… Also, wo blieben wir stehen? Aha, richtig.

Beim klassischen Drama der Humanität Und Freiheit. Früher saßest du in dėr Loge und schautest auf die Bühne und fühltest, ja — du fühltest! Dein Herz arbeitete, pochte! Du hörtest menschliche Worte, sahst menschliche Handlung. Mit einem Wort, Herrliches und, glaubst du mir? Ich weinte wie ein Kind. Es war so, ich saß und weinte wie ein Narr. ,Warum weinst du?', frug meine Frau. Aber ich wußte selber nicht einmal warum. Es war Klassik, Rührung, Menschlichkeit. Auf mich wirkt eine solche Handlung erzieherisch … Ehrlich gesprochen, wer wird von wahrer Kunst nicht gerührt, ha? Wer wird dadurch nicht geadelt? Wem, wenn nicht der Kunst, der wahren Kunst sind wir verpflichtet für die hohen Gefühle, die in uns leben, die nicht nur die Wilden nicht kennen, sondern auch unsere Vorfahren nicht kannten. Ich habe Tränen in den Augen, gute edle Tränen; ich schäme mich ihrer nicht. Ich bin ein Mensch mit Gefühl und Aesthetik. Nun, Bruder, auf dein Wohl! Nimm, wir trinken auf unsere Freundschaft. Es lebe die Kunst und Menschlichkeit!"

„Trinken wir, Bruder! Gott gebe, daß auch unsere Kinder so fühlen, wie wir…“

Die Freunde leertet! die Gläser und sprächen über Shakespeare.

Aus dem Russischen von Irene v. Bischoffshausen

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