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Der tomtenfeste Gast

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Herr Selterskij, Advokat und Notar, saß in dem tiefen Sessel und gähnte. Er konnte die Augen nur noch mit Mühe offenhalten. Ich müßte schlafen gehen, dachte er. Warum sich quälen? Die ganze Natur schläft bereits. Die Vogel Schweigen im Walde, meine Frau und das Dienstmädchen ruhen auch schon in ihren Betten!

Aber Selterskij durfte noch nicht ins Schlafzimmer gehen, obwohl an seinen Augenlidern ein zentnerschwerer Stein lag. Eben hatte sich Oberst a. D. Peregarin, sein Nachbar, zu Besuch gemeldet. Um Himmels willen, seufzte er, es ist ja bald elf Uhr! Was für eine Gewohnheit, die Nächte hindurch schwatzen zu wollen! Es klingelte. Selterskij erhob sich, ging langsam zur Tür und öffnete. „Da sind Sie ja, mein Lieber. Wie lange haben wir uns schon nicht gesehen? Warten Sie … Ich glaube seit …”

„Seit Samstag, und heute ist Dienstag, lieber Nachbar. Ich freue mich, mit Ihnen ein bißchen zu plaudern. Wollen wir vielleicht eine Partie … ?”

„Natürlich, die Karten liegen bereit, wenn Sie wirklich Lust dazu haben!” ereiferte sich der Advokat und machte den Mund mit der Hand zu, um das Gähnen zu verbergen. Man darf sich ja nicht gehen lassen vor fremden Menschen. Höflichkeit und Zuvorkommenheit vor allem! „Bitte, nehmen Sie Platz, Oberst! Kognak oder Rum?” fragte er mit müder Stimme. „Oder beides?”

„Hahaha”, kicherte der Gast. „Sie haben Humor, Doktor! Elf Uhr vorbei — da trinkt man gemischt, bei Gott! Ich … ich bin zu allem bereit, Brüderchen. Wenn Sie wollen, fahre ich mit Ihnen zu den Zigeunern, ja, das tue ich. Nitschewo, Brüderchen, ich bin kein Spielverderber. Ich sage nie ,N e i n !’ Auf mich können Sie sich stets verlassen. Und das Frauchen? Schon im Bettchen? Ja, ja … unsere Damen heutzutage!”

Die beiden Flaschen waren nun fast leer. Man hatte bereits mehrere Partien gespielt. Man sprach über dies und jenes. Und es schlug bereits zwei Uhr. Der Advokat hatte ein paarmal eingenickt. Aber die heisere Stimme des Obersten donnerte über seinem Ohr und riß ihn immer wieder empor. Er berichtete mit lauter Stimme, wie ihn im Jahre 1842 zu Krementschug ein toller Hund gebissen hatte. Als er mit diesem Bericht zu Ende war, begann er ihn von vorn. Der Hausherr war verzweifelt. Wie deutlich er dem Gast auch zeigte, daß er müde und überarbeitet war, war vergebens. Er sah jeden Augenblick auf die Uhr, klagte über Kopfschmerzen, ging alle fünf Minuten aus dem

Zimmer und ließ den Nachbar allein — doch nichts half! Der Oberst fuhr unbeirrt in seinem Bericht über den tollen Hund fort.

Dieser alte Narr wird bestimmt bis zum Morgen dasitzenl dachte Selterskij verzweifelt. Gut, wenn er so taktlos ist und meine Andeutungen nicht versteht, so nehme ich den Kampf auf. Warte …

„Wissen Sie, Oberst, warum mir das Leben auf dem Lande so gut gefällt?”

„Na, warum denn?”

„Weil man hier sein Dasein nach Belieben regulieren kann. Während ich in der Stadt keinen Menschen äbweisen darf, kann ich mich hier zur Ruhe legen, wann ich will! Wenn ich müde bin, wie zum Beispiel heute …”

„Ich mache mir nichts aus dem Schlaf”, sagte der Oberst stolz. „Von mir aus braucht es keinen Schlaf zu geben. Ich bin nie müde.”

„Wenn ich nach zwölf Uhr schlafen gehe, habe ich am nächsten Tag todsicher Migräne”, klagte der Hausherr, ohne sein Gähnen zu verbergen.

„Es kommt ganz und gar auf die Gewohnheit an. So etwas ist Weibersache. Migräne! Kenne ich nicht! … Ich hatte einmal einen Bekannten, einen gewissen Hauptmann Kjuschkin. Dieser Kjuschkin also …” Und der Oberst begann stotternd, schmatzend und gestikulierend die Geschichte des Hauptmanns Kjuschkin zu erzählen. Die Uhr ging auf Drei — er sprach immer noch über Kjuschkin und dessen Gewohnheiten. Selterskij trat kalter Schweiß auf die Stirn.

Du Teufel, du Antichrist, du Rindvieh! Er ist einfach dumm. Glaubt denn dieser Esel vielleicht, daß mir seine Anwesenheit soviel Freude macht? Ach, Gott! Wie soll ich ihn bloß loswerden?

„Sagen Sie mal”, unterbrach er den Gast, „was soll ich tun? Ich habe heftige Halsschmerzen! So ein Pech! Ich besuchte heute einen Freund, dessen Kind die Diphtherie hat. Wahrscheinlich habe ich mich dort angesteckt. Ja, ich weiß es sogar genau. Ich habe Diphtherie!”

„Es kommt vor”, sagte Peregarin mit größter Seelenruhe.

„Diese Krankheit ist höchst gefährlich. Hoffentlich stecke ich Sie nicht an, Herr Oberst!”

„Keine Bange, Brüderchen! Mich greift nicht einmal Cholera an. Ich habe bereits in Typhusspitälern gelebt, habe mich nie angesteckt, und bei Ihnen soll ich mich anstecken? So ein alter Hase wie ich ist gegen jede Krankheit gefeit, ln diesem Alter, ist man zäh wie altes Leder. Wir hatten in unserer Brigade einen älteren General … Anatole hieß er, französischer Abstammung. Dies General IM’ Peregarin erzählte nun von der Zähigkeit des Generals Anatole. Die Uhr schlug halb vier.

„Sie sind in der Tat unantastbar, Herr Oberst! Darf ich fragen, wann Sie gewöhnlich zu Bett gehen?”

„Manchmal um zwölf. Sonst meist gegen vier Uhr. Es kommt aber vor, daß ich überhaupt nicht zu Bett gehe, besonders, wenn ich in angenehmer Gesellschaft bin oder rheumatische Schmerzen habe. Ich schlafe mich dann am Tage aus. Im Kriege da dachte kein Mensch im Felde ans Schlafengehen. Ich Will Ihnen zum Beispiel folgenden Fall erzählen. Unser Regiment stand vor Poltawa …”

Was redet der? staunte der Advokat. „Entschuldigen Sie, was mich betrifft, so gehe ich regelmäßig um elf Uhr zu Bett. Sonst habe ich am Morgen Migräne. Ich muß aber arbeiten, wissen Sie!”

„Arbeiten müssen wir alle. Trotz meines Alters schufte ich jeden Morgen im Garten und .. .

„Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist”, begann wieder der Hausherr. „Bald fröstelt es mich, bald vergehe ich vor Hitze. Das habe ich immer vor dem Anfall. Ich muß etwas gestehen, Oberst. Aber, unter uns … Oft habe ich sonderbare Anfälle, besonders in der Nacht. Ich weiß dann nicht, was ich tue. Einmal zerschlage ich das Geschirr oder ich verprügele sogar meine Frau! Sie lachen? Ich bin aber todunglücklich. Niemand ist sicher vor mir, wenn es mich packt. Brrr … mich fröstelt sol Stecken Sie, bitte, das Messer weg. Es summt in meinen Ohren, es juckt in meinen Händen. Nehmen Sie die Flasche vom Tisch. Auch die Gläser. Brrr … Ich bin ein unglücklicher Mensch. Nichts und niemand kann mir bei solchem Anfall helfen. Es ist schon seit Kindheit … Manchmal werfe ich sogar Stühle an die Wand. Es fröstelt mich jetzt, wie es jedesmal vor dem Anfall geschieht. Es fängt immer an mit diesem Schüttelfrost!”

„Ei, ei! Was es nicht alles in der Welt gibt! Sie sollten zum Arzt gehen! Vielleicht eine Kur in einem Sanatorium? Ich kenne eine Frau Schichkow … auch die hat so etwas Aehn- liches gehabt!”

„Ich beschränke mich nur darauf, daß ich vor dem Anfall meine Angehörigen warne, damit sie mir rechtzeitig aus dem Wege gehen, bis ich mich ausgetobt habe. Sonst lebte schon bestimmt keiner von ihnen … !”

„Seltsam … Was es nicht alles gibt! Pest, Cholera, Diphtherie … verschiedene Anfälle!” Der Oberst schüttelte verwundert den Kopf und wurde ernst. Schweigen trat ein. Was soll ich noch tun, um diesen Hornochsen hinauszuekeln? dachte der gequälte Hausherr. Vielleicht … Ja, daß ich nicht vorher an so was gedacht habe! Ich werde ihm aus meinem Roman vorlesen, den ich in meiner Studentenzeit verfaßt habe. Der schläft dabei bestimmt ein. „Wissen Sie was, Herr Oberst? Möchten Sie vielleicht, daß ich Ihnen aus meinem Werk vorlese? Ein Roman! Die Heldin, eine junge, hübsche Witwe, eine sehr jugendliche Dame …”

„Famos! Noch dazu verwitwet! Ganz und gar mein Fall! Nur los, Brüderchen. Ich bin ganz Ohr …” Der Gast setzte sich bequemer, kreuzte die Beine und schärfte das Ohr. Tn dieser willigen Pose entwaffnete er sogar den unglücklichen Romancier.

Eine glänzende Idee! dachte der Autor. Der hält es nicht aus! Die Beschreibung des Schlosses allein schläfert ihn ein …

Es verging geraume Zeit. Da sagte der Oberst: „Wie schön muß es sein, in so einem Schloß zu leben, und wie hinreißend ist es geschildert. Nicht wie irgendein untalentierter Anfänger. Man sieht die Hand, merkt den Verstand. di groß Begabung. Lesen Sie nur weiter, lieber Freund. Ich bin ganz begeistert. Und dann kommt noch diese Witwe … Ich bin äußerst gespannt.”

Der Teufel soll dich holen, du taktloses Schwein! Ich kann wirklich nicht mehr. Meine Kraft ist zu Ende. Der bringt es fertig, den ganzen Roman zu Ende hören zu wollen.

„Sie sehen etwas müde aus”, sagte der Gast und lächelte gütig. Der Advokat triumphierte.

„Wenn es Ihnen zuviel ist, lassen Sie jetzt! Wir können auch plaudern”, schlug der Gast vor. „Ich habe sowieso etwas aufgeschrieben, was ich mit Ihnen besprechen möchte. Warten Sie … 1”

Alle Mittel habe ich versucht, alles vergeblich! Ach, ich würde für eine Idee hundert Rubel geben, für jeden Einfall, mit dem ich ihn hinausbringen könnte. Ach … ich glaube, ich habe es! Ich werde ihn anpumpen! Es ist ein erprobtes Mittel …

„Oh, Herr Oberst! Beinahe hätte ich vergessen. Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten … Ich habe in der letzten Zeit hier viel Geld ausgegeben, ich besitze jetzt keine Kopeke, erwarte erst Ende August Geld aus der Stadt …”

„Es ist so spät geworden, Brüderchen .- • , schnaufte plötzlich der Oberst, sich nach seiner Mütze umsehend. „Es ist vier Uhr vorbei.,. Was haben Sie eben gesagt?”

„Ich möchte Sie um 200 oder 300 Rubel anpumpen. Oder wissen Sie jemand, der mir das Geld leihen könnte?”

„Wieso sollte ich es wissen? Es ist Zeit für Sie, zu Bett zu gehen! … Haben Sie vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft …”

„Wo wollen Sie denn hin, Oberst?” triumphierte Selterskij. „Bleiben Sie noch ein Weilchen da!”

„Sie müssen schleunigst ins Bett. Die Frau Gemahlin wird böse sein, daß ich Sie so lange aufhielt. Keine Widerrede, marsch, ins Bett, Bruder!”

Aus dem Russischen von 1. v. Bischoffshausen

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