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Der alte Anxug

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Herr (von) Gahl nahm den grauen Anzug aus dem Kleiderschrank und hängte ihn über das Notenpult. Der Augenblick war ernst. Denn es .handelte sich um Sein oder Nichtsein eines treuen, erprobten Lebensgefährten. Mit bekümmertem Blick folgte er den Spuren der männeranzüge-mordenden Zeit und seufzte. Der graue Anzug war der letzte aus einer einst stattlichen Reihe von Friedensanzügen. Er war im Jahre 1913 bei Meister Na-prawnik in der Bräunerstraße geboren worden und zählte zu den besten Werken dieses begabten Schneiders. Er hatte noch den heute so gesuchten Vorkriegscharakter. Qualität, ruhige Linie, sanften Schwung der Taille und edlen Fall der Hose, dies alles hatte er gehabt und hatte es noch, wenngleich nur mehr dem liebevollen Auge des Kenners fühlbar. Nun hing er müde auf dem Notenpult, nicht ohne leise Faserung des Kragens und der Ärmelränder, mit leicht ausgebohrten Knien. Rundliche Flecke längst vergessener Bratensäfte zierten seine Brust wie Medaillen langen, verdienstvollen Wirkens. Die Rückseite der Hose spiegelte im wörtlichen Sinne die fleißige amtliche Arbeit ihres Trägers wider. Melancholisch betrachtete Herr (von) Gahl den alten Freund.

Er hatte ihn geliebt, den grauen Anzug. Sie hatten manches Jahr einer Zeit zusammen verbracht, die zwar nicht groß, aber schön gewesen war. Und auch er, der alte treue Freund, schien mit dem verborgenen geistigen Auge der Dinge den Blick des Herrn zu erwidern. Es tat ihm weh, seinen Posten zu verlassen. Noch hatte er kein wesentliches Loch, der Stoff hielt in alter Festigkeit. Die T4nP warf sich förmlich in die Brust wie ein zu pensionierender Beamter vor dem Chef: „Oh, ich bin kerngesund, nur ein wenig verkalkt. Ich kann noch lange dienen.“

Dies rührte Herrn (von) Gahl und er besdiloß, den Anzug wenden zu lassen. Er trug ihn zu Herrn Naprawnik in die Bräunerstraße. Dieser besah ihn und betastete ihn aufmerksam und liebevoll. „Ein guter Anzug“, fügte er hinzu. Dann erklärte er sich bereit, die Arbeit zu übernehmen.

Vierzehn Tage später erhielt Herr (von) Gahl den Anzug und begrüßte ihn freudig überrascht. Er war schön, fast wie neu. Die Spiegelflächen waren verschwunden, die zerfaserten Ränder sahen aus wie frisch rasiert, und die Fledce saßen innen, unsichtbar wie jene, die der Mensch an seiner Seele trägt. Die Brusttasche freilidi, die saß nun rechts. Aber es wäre ungerecht, einem Träger alter Tradition den Zug nach rechts zu verübeln.

Es war ein herzliches Wiedersehen. In den Ärmchen lagen sich beide und weinten vor Schmerz und Freude. In den ersten Monaten benahm sich der Anzug tadellos. Aber bald zeigten sich wieder Falten, fadensdieinige Stellen und die alten greisenhaften Züge. Wehmütig stellte dies Herr (von) Gahl fest. Und eines Tages hing der Bedauernswerte abermals zur Musterung auf dem Geigenpult. Er ahnte nichts Gutes. Das Herz sank ihm in die nunmehr wieder spiegelnde Hose, aber er hoffte noch immer. Lange und schmerzlich betrachtete ihn Herr (von) Gahl. Er erwog und prüfte alles. Doch dann gelangte er zu dem schweren Entschluß: Nein!

Er beschloß, sich von seinem treuen Lebensgefährten endgültig zu trennen und ließ sogleich den rühmlich bekannten Bettler, Herrn Albanitzky, holen, um ihm den Anzug zu weiterem Gebrauche zu überantworten. Herr Albanitzky hatte zwei Doktorate, das juridisdie und medizinische, machte jedodi von ihnen keinen Gebrauch. In seinen freien Stunden bereitete er sich auf das philosophische Doktorat vor, das seinem Talent und seiner Neigung am meisten zusagte. Er hatte sein einst beträchtliches Vermögen im Wege der Kriegsanleihe und Steuergesetzgebung ehrenhaft verloren und war in dem Bestreben, in einem Intelligenzberuf seinen Broterwerb zu finden, über fünfzig Jahre alt geworden. Er hatte das Elend in seiner bittersten Form kennengelernt, bis ihm endlidi ein Freund durch Beziehungen einen Bettlerposten in einem der verkehrsreichsten Durchgangshöfe Wiens verschaffte. Die Natur hatte ihm glücklicherweise ein überaus dürftiges Äußere, dazu aber eine eiserne Gesundheit verliehen. So lebte er denn auskömmlicher als je. Er fügte sich mit Stilgefühl in das barocke Stadtbild und legte nach Feierabend manchen Spargroschen zurück, jedoch mit Vorsicht und dem Zugriff des Staates entrückt.

Herr Albanitzky kam und betrachtete Dflichtgemäßt den Anzug. ErJjesah auch unauffällig die Möbel, den Büchersdirank und den Geschenkgeber, dann flüsterte er, taktvoll ein Lächeln unterdrückend: „Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Güte, die mich um so mehr rührt und bewegt, als sie in unserer Zeit immer seltener zu werden scheint. Ich muß Sie jedoch leider bitten, mir zu gestatten, daß ich unbesdiadet meines dankbarsten Gedenkens diesen Anzug nicht annehme. Damit will ich aber durdiaus kein Urteil über seinen Wert und seine Schöna heit ausgesprochen haben, da mir dies keineswegs zukommt und der Grund meiner Ablehnung' Erwägungen anderer Art entspringt. Der Grund meiner dankbaren Ablehnung ist, wenn ich so sagen darf, ein rein geschäftstechnischer. Der Anzug käme für mich nur als, wenn der Ausdruck gestattet ist, Arbeitskleid in Betracht. Denn er verfügt, wie ich sehe, über alle Eigenschaften, die nötig sind, um das erforderliche Mitleid hervorzurufen. Nun besteht eben in diesem Punkte bei mir eine gewisse Besonderheit. Wie Sie wissen, bin ich im ersten Bezirk, wenn ich so sagen darf, tätig und habe ein Publikum von ganz bestimmter Eigenart. Mein Publikum ist nidit, einfach naiv-mitleidig, sondern c-s ist ästhetisch-mitleidig. Ich werde Ihnen sogleich erklären, wie ich das meine. Mein Publikum bedauert nicht das Elend an sich, nicht die kompakte, amorphe Masse des Elends, das, wenn ich in

Parenthese bemerken darf, das unticht-bare Fundament unserer Gesellschaftsordnung bildet, sondern mein Publikum schätzt, wenn der Ausdruck gestattet ist, das stilvolle Elend; es findet den Zugang zu ihm leichter auf dem Wege der Literatur und Kunst, wie Sie aus den Werken unserer begüterten Dichter zu ersehen belieben. Dieser — verzeihen Sie gütigst den üblen Ausdruck — Mentalität muß ich durch sorgfältige Wahl meines Arbeitsgewandes Rechnung tragen. Mein Anzug darf nicht äußerste Not, sondern nur diskrete Herabgekom-menheit widerspiegeln. Er darf den ästhetischen Sinn des Publikums nicht beleidigen, ich muß der sentimentalen Phantasie meines Publikums Spielraum lassen. Das ist Kultur. Ich kann es nicht ändern, und deshalb, sehr verehrter Herr, muß ich zu meinem außerordentlichen Bedauern das mir zugedachte Geschenk mit innigstem Dank in Ihre gütigen Hände zurücklegen.“

Herr (von) Gahl war wieder allein mit seinem Anzug, der sichtlich erleichtert aufatmete. Er nahm ihn und verwahrte ihn wieder im Kasten. Vielleicht kam noch einmal eine Gelegenheit, ihn hervorzuholen

Die Gelegenheit fand sich rascher, als ihm lieb war. Herr (von) Gahl wurde von seinem Brotgeber, dem Staat, plötzlich abgebaut. Herr (von) Gahl bezog zwar eine Pension, sie war jedoch so klein, daß sie kaum zum bescheidensten Lebensunterhalt genügte. Da erinnerte er sich wieder seines alten Anzuges. Er holte ihn aus dem Schrank hervor und betrachtete ihn wehmütig. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, es war zu arg. Schon wollte er ihn wieder verwahren, da schoß ein Gedanke durch Kopf und Herz. Er wickelte den Anzug in ein Papier und trug ihn in die Bräunersträße zu Meister Naprawnik. Dort befreite er den zwischen Furcht und Hoffnung schwankenden Anzug von seinen Hüllen, hielt ihn Herrn Naprawnik hin und fragte leise und stockend:

„Könnte man diesen Anzug..., ich habe ihn nämlich sehr lieb und möchte mich nur ungern von ihm trennen ..., könnte man ihn vielleicht... wieder zurückwenden?“

„Was?“ schrie Herr Naprawnik, schob die Brille hoch und starrte den seltsamen Besteller an. Herr (von) Gahl fühlte deutlich, wie der Anzug in seiner Hand bang zitterte.

Herr Naprawnik senkte den strengen Blick, nahm eine Prise, vielleicht, um eine unziemliche Regung des Mitleids zu verbergen. Dann sprach er mild:

.Ich will es versuchen.“

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