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BEGEGNUNG MIT KAZRA

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An einem Regentag im März des vorigen Jahres sah ich Kazra zum erstenmal. Ich hatte noch zwei Semester bis zu meinem Doktorat an der Sorbonne vor mir und gab, um meinen Monatswechsel aufzubesseren, mehreren Ausländern Sprachunterricht. Auf Kazra stieß ich durch ein Inserat im „Figaro“. Cazotte brachte sie zu mir. Er tauchte ein paar Tage, nachdem ich an die Zeitung geschrieben hatte, bei mir auf. Mit Bewegungen, die etwas Lauerndes an sich hatten, schob er seinen Körper zur Tür herein. Er trug einen kastanienbraunen Ledermantel, der Gedanken an Roheit und Gewalttat erweckte, und roch nach Toilettenseife und nassem Straßenpflaster.

Ohne daß ich ihn dazu aufgefordert hätte, setzte er sich auf einen Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte. Diese Unverschämtheit und die Art, in dier er sich, als wollte er es in Besitz nehmen, mit taxierenden Blicken in meinem Zimmer umschaute, empörten mich, und ich erklärte, daß die Zahl meiner Schüler komplett sei. Er schob meinen Einwand mit einer Bewegung seiner beihaarten Pranke von sich. Nicht er wolle Stunden nehmen, sagte er in breitem Elsässisch, er habe eine Schülerin für mich, eine Künstlerin, „eine Person mit einem Gedächtnis wie gestochen, eine, die spielend lernt“. Er zahle jeden Preis, ich könnte doch Geld gebrauchen, oder nicht? Er hatte die Musterung des Raums beendet und richtete seinen Blick auf mich, einen Tierbändigerblick, der zupackte und zugleich auf der Hut war.

„Hören Sie, Perrault“, sagte er. „Sie sind ebensowenig mein Typ wie ich Ihr Typ bin, aber Sie sind der richtige Mann für Kazra. Ich könnte ihr das teuerste Institut bieten, doch dort paßt sie nicht hin, weil sie neugierige Leute nicht verträgt. Sie werden sich gut mit ihr verstehen. Sie werden ihr beibringen, was sie braucht. Das ist alles. Vorschuß?“

Er saß da mit der Brutalität seines Säufergesichtes, ein Berg, der schwer wegzubringen war. Er hatte mich richtig eingeschätzt, hatte die Wut meines Widerwillens gegen ihn durch seine Bemerkung gelähmt, und zeigte mir jetzt, wie ich ihn loswerden konnte, indem er sagte: „Ich gehe und schicke Kazra herauf, ja? Wenn Sie Freikarten fürs .Arabelle' wollen, rufen Sie mich an. Sie hat die Tanznummer nach der Pause.“

Ich gab nach, obwohl ich mir keine Illusion darüber machte, welchen Rang ein Mädchen, das mit einem Mann wie ihm zusammenarbeitete, haben konnte. Ich nannte mein Honorar, das er mit einem Nicken bewilligte, und fragte nach der Muttersprache der Schülerin.

„Muttersprache? Sie hat keine Muttersprache.“ Mit diesen Worten verließ Cazotte den Raum, grußlos. Ich blieb verdrossen zurück, mit dem Bewußtsein, durch den Reif gesprungen zu sein, den er mir hingehalten hatte.

Etwas später ließ die Vermieterin jemand ein und gleich darauf klopfte es leise an meiner Tür. Ich öffnete und erblickte eine in Pelzwerk gehüllte Gestalt, ein knochiges Gesicht ohne Schminke, aus dem mich dunkle Augen anstarrten. „Cazotte schickt mich“, sagte sie, und ich merkte, daß sie davor zurückscheute, einzutreten.

Ihre Haltung flößte mir Mitleid ein, ihr Aussehen Staunen. Ich hatte mir eine Tänzerin des obskuren Etablissements, von dem ich nie etwas gehört hatte, anders vorgestellt. Ich trat zurück und forderte sie auf, hereinzukommen. „Ich habe gerade Zeit“, sagte ich, „wenn Sie wollen, können Sie gleich die erste Stunde nehmen.“

Sie zögerte, dann glitt sie herein, machte eine Runde durch den Raum, wie um ihn mit ihren lautlosen Schritten auszumessen und kehrte in die Nähe der Tür zurück, als wollte sie sich für den Fall einer Gefahr einen Fluchtweg offenhalten. Ich sprach auf sie ein, um sie zu beruhigen, und fragte mich, wovor sie sich fürchten mochte. Wir hielten die Stunde, und ich stellte fest, daß sie etwas Französisch und fließend Deutsch sprach. Doch ihre eigentliche Sprache bestand nicht aus Worten, sondern in dem Ausdruck ihrer Augen und ihres Gesichts, und aus vielen kleinen Gestikulationen ihrer Hände und Bewegungen ihres Körpers. Sie erinnerte mich an einen taubstummen Knaben, den ich seiner Kunst willen, sich mit dem ganzen Körper mitzuteilen, wobei sein Ausdruck unmittelbar aus dem Herzen zu kommen schien, bewundert hatte. Ebenso wie er war sie mit der Welt, die sie umgab, durch Empfindungsströme verbunden, von denen jene Menschen nichts ahnen, für die Worte Kleingeld sind, das man ebenso rasch ausgibt, wie man es einnimmt. Als ich sie verabschiedet hatte, blieb mir genug Stoff zum Nachdenken, und ich empfand Ungeduld, wenn ich daran dachte, daß sie erst in vier Tagen wiederkommen sollte.

Ihre Art, die keine Spur von Lebensroutine zeigte, bestürzte mich. Schweigend, mit einem Gesicht, als geschähe es zum erstenmal, hatte sie von den Keks gegessen, die ich ihr hingestellt hatte. Ich hatte sie Vokabeln in ein Heft schreiben lassen, und sie war jedem neuen Wort wie einem Lebewesen begegnet, mit Augen, in denen Eifer und Freude glitzerten; ich hatte ihre Hand betrachtet, die so schrieb, wie ein Kind malt: klug, voller Einfalt, hingegeben. Ihr Eifer hatte nichts von der Verächtlichkeit eines Schülers, der gute Zensuren erstrebt, sondern er erschien mir als eine Kraft aus der Notdurft des Lebens wie der Jagdflug eines Falken, als ein Vorgang in der Natur, der mich erregte. Ledermantelmann Cazotte hatte recht, sie besaß ein unwahrscheinliches Gedächtnis: sie hatte gegen Schluß der Stunde sämtliche Vokabeln gewußt, die wir in der Form von Sätzen durchgenommen hatten; nicht leblos auswendig, nicht auf jene Automatenart, in der sich Rechenkünstler in der Öffentlichkeit produzieren, sondern indem sie sich die Worte zum Besitz gemacht hatte.

Doch das sind nur Anmerkungen am Rande des Problems. Ihr Anblick, die Stunde des Beisammenseins, die Art, wie sie ging, saß, schaute, atmete und sprach, hatten mir einen Schock versetzt, über den ich nicht hinwegkam, den ich mir nicht erklären konnte.

Ich sann dem Tonfall ihrer Stimme nach, dieser dunklen, etwas heiseren Stimme, die so wehrlos klang, wehrlos gegen alle jene Schläge und Attentate, die unter Menschen üblich sind, und ich hatte ihr Gesicht vor mir, ein Rätsel, das mir aufgegegen war; das Gesicht mit seiner Magerkeit und den starken Backenknochen, das von Entbehrungen sprach, von Entbehrungen, die in ihr bohrten und wühlten, die an ihr nagten,.und von,einer Art H,unger und Durst, die ich für unstillbar hielt. Ich dachte an ihre schmächtige Gestalt mit den breiten“ Hüften, an das Jackenkleid, das, an den Schultern zu breit, lose an ihr hing und Ähre Schmächtigkeit unterstrich.

Das alles waren Äußerlichkeiten, die vielleicht nicht viel besagten, damals vor fast anderthalb Jahren, an jenem feuchten und kalten Märznachmittag, in dessen Verlauf der Regen in ein Schneegestöber überging, als ich an der Madeleine vorüberwanderte und in den Boulevard des Capucines einbog, auf einem Spaziergang, der meine Unruhe beseitigen sollte. Dennoch konnte ich, damals wie auch jetzt, nicht davon ablassen, Kombinationen anzustellen und Schlüsse zu ziehen. Damals: Wo stammt sie her? Deutsch ist ebensowenig ihre Muttersprache wie die meine; ihr Gesichtsschnitt, ihr blauschwarzes, drahtiges Haar deuten nach dem Osten, nach dem Orient, nach Süditalien, nach Spanien, spanisch mit maurischem Einschlag, spaniolisch vielleicht. Wie kam sie zu den Deutschen, wie nach Paris? In welchem Verhältnis steht Cazotte, dieser Dompteur mit dem Ausbeuter- und Zuhältergesicht, zu ihr? Ist sie sein Werkzeug, ist er dabei, sie zu seiner Kreatur zu machen? Ist das ominöse „Arabelle“ also ein Gefängnis für sie, und die Entbehrung, die sie zermürbt, die Entbehrung der Freiheit von der Ledermantelwelt? Das waren im März des vorigen Jahres die Fragen, mit denen ich mich herumschlug, nachdem ich Kazra Kazan kennengelernt hatte. Richtiger: nachdem ich sie eine Stunde lang bei mir gehabt hatte, ohne auch nur ihren Nachnamen zu erfahren, denn ich hatte darnach zu fragen vergessen. Ihren Nachnamen und weicher Art ihre Tanzkunst war, erfuhr ich zwei Stunden später, denn ich betrat, wie unter einem Zwang handelnd ein Bistro und suchte im Telephonbuch die Adresse des „Arabelle“, um die Abendvorstellung zu besuchen. Andere Fragen beantworten sich mit der Zeit von selbst. Das Rätsel ihrer Herkunft bleibt, was immer auch geschieht, unlösbar.

Heute, zehn Tage, nachdem sie die letzte Unterrichtsstunde bei mir hatte, und eine Woche, seitdem sie plötzlich aus Paris verschwunden ist, denke ich wie ein Kriminalist, der einem Verbrechen nachspürt, und wie ein Dramenschreiber, der meint, die Fäden einer Tragödie wie bunte Zwirne auf seine Spule wickeln zu können. Doch ich fürchte, ich tauge weder zu diesem noch zu jenem Beruf. Ich habe mit einer Menge Menschen gesprochen, die Kazra gekannt haben, habe Kommissar Druot im Präsidium besucht und Nächte ohne Schlaf gehabt, ich habe mir alle Details der vielen Stunden, die ich mit ihr verbrachte, sie in die Welt meiner Sprache und damit in die Grundformeln des Denkens und Dichtens meines Volkes einführend, unermüdlich vor Augen gehalten — vergeblich. Ich fand keine Spur, die mich zu ihrer gegenwärtigen Existenz — oder Nichtexistenz? — geführt hätte. Was mir von ihr bleibt, ist das Bild, das ich von ihr habe, ein Bild, das in der kommenden Zeit alle Veränderungen mitmachen wird, denen ich selbst unterworfen sein werde, das sich, ich weiß es aus Erfahrung, mit mir verwandeln wird, so sehr, daß Kazra eines Tages nicht mehr für mich wird sein können ab die Erinnerung an Erinnerungen, die selbst wieder Erinnerungen von Erinnerungen sind. Eine Kazra also, die es in solcher Gestalt nie gab, eine Kazra Kazan, die mein Geschöpf sein wird.

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