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Wir hoffen sehr auf Kronstadt

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Der Kronstädter Aufstand von 1921 wird von der bolschewistischen Geschichtsschreibung bagatellisiert und mit zwei, drei Zeilen abgetan. Wie kam es, daß die Matrosen, die eifrigsten Vorkämpfer Lenins und Helden der Oktoberrevolution 1917, sich schon nach fünf Jahren gegen das Regime wandten? Alle damaligen Beschuldigungen, sie seien von ausländischen Agitatoren dazu aufgehetzt worden, haben inzwischen ihre Glaubwürdigkeit verloren. Nein, Kronstadt war die letzte Hoffnung der Russen, daß aus dem blutigen Wirbel der Revolution doch noch ein Reich freier Menschen erstehen könnte. Gewiß, eine kindliche Hoffnung: diese Matrosen verehrten Lenin, waren aber schlechte Marxisten-Leninisten. Sie wollten es nicht wahrhaben, daß zur Herbeiführung des Zukunftsstaates der einzelne nun erst recht geknebelt werden sollte.

Die Kronstädter waren eine tollkühne Gesellschaft. Was in Rußland freiheitlich und selbstverwaltend war, hatte es seit jeher mit dem Wasser zu tun gehabt- so die Nowgoroder. so die Kosaken (die sogar bis nach Kalifornien vorgedrungen waren). Moderne Kriegsschiffe sind schwimmende Fabriken und Gefängnisse: sie sind nicht nur von technischen, sondern auch von seelischen Explosivstoffen angefüllt. 1905 blieb das Heer -arktisch doch der Panzerkreuzer Potemkin hißte die Flagge der Revolution Und 1917 machte die Flotte sogleich mit, indem der größte Teil der Offiziere auf scheußlichste Weise umgebracht wurde. Die Matrosen waren die radikalsten von allen und fühlten sich als Lenins Lieblingskindei: waren sie es doch, die im bolschewistischen Oktober-Umsturz das Winter-palais erstürmt hatten. Von den nun folgenden Bürgerkriegen wurde die Festungsinsel Kronstadt nicht berührt; sie nahm eine privilegiert* Sonderstellung ein und wurde von den Bolschewisten in Ruhe gelassen. Eben darum schwelgte Kronstadt in freiheitlichen Gefühlen, ohne zu merken, daß gerade dieses den Bolschewiken allmählich unbequem wurde. Eine Tscheka wurde in Kronstadt eingesetzt; die Kronstädtet nahmen sie in Haft. Der Eisbrecher ..Lassalle 11.“ wurde wegbeordert — die Matrosen ahnten noch immei nicht, was sich da über ihnen zusammenzog. (Krenstadt sollte im Winter, wo es wegen des Eises keine Insel mehr war, erobert werden, der Eisbrecher hätte es wieder zu einer Insel machen können.) Schließlich schickten die Kronstädter eine Abordnung zu ihrem Vater Lenin nach Mo?kau; es kam nichts dabei heraus, denn ihr Untergang war bereits beschlossen. Dann endlich erfolgte im Frühjahr das Ultimatum, das Bombardement von der Küste aus und der Sturm über das Eis, der vier Tage lang mit den furchtbarsten Verlusten fortgeführt, wurde, Iiis die brennende Stadt erreicht war und in einem Blutbad ohnegleichen erlag. Auf Kronstadt war nicht mehr zu hoffen.

Den Ablauf dieser Tragödie erzählt das Buch von außen und zugleich von innen, nämlich von den Gefühlen und Erlebnissen eines Matrosen aus, der seine Geliebte in Kronstadt sehnsüchtig erwartet, sie heiratet und endlich mit ihr in der Schreckensnacht an die Küste zu fliehen sucht. Es ist ein Kolossalgemälde mit tausend künstlerischen Einzcl-strichen und „choses vues“, die man nicht leicht vergißt Der Seelenzustand der Kronstädter ist in vielen Einzclszenen eindringlich geschildert; „ja, so muß es gewesen sein“, denkt man immer wieder Dabei kann man nicht sagen, daß die handelnden Menschen besonders lebensvoll hervortreten; sie bleiben im Episodischen, denn das, was sie zu Verbrechen, Uebermut und Verzweiflung fortreißt, ist der Hauptakteur des schrecklichen Geschehens. Durch dieses Buch weiß man endlich, was „Kronstadt“ bedeutete, und man wird es nicht vergessen.

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