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Die neuen Roten

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Julid, der Fußballaltmeister von Brasov/Kronstadt, ist nicht mehr ansprechbar. Seit Tagen bechert er Alkohol wie Wasser in sich hinein. Er verflucht sein Idol Doina Cornea, die unerschrockene Ceauses-cu-Kritikerin, die in den letzten Jahren immer wieder - trotz aller Arten subtiler Repression - in öffentlichen Briefen gegen den Tyrannen wetterte, als Kollaborateurin der „neuen Roten". Er wünscht seine Mitstreiterin Gabriela Parvu (die Gattin des Dissidenten Virgil Parvu, siehe FURCHE 3/1989) zum Teufel, da sie vor wenigen Monaten das „Geschenk" der Securitate annahm und mit einem Reisepaß gen Westen verschwand. Der ehemalige Werksleiter des größten Industriebetriebs Rumäniens, des Traktoren- und Lastwagenwerks „Steagul Rosu", ertrinkt in seinen Gedanken.

Eine Rückblende: Am 15. November 1987 gehörte Julid zu den Organisatoren der bis dahin größten Hungerrevolte im „Reich des Con-ducatore" in Kronstadt (FURCHE 50/ 1987). Zwei Jahre später: Der Aufstand tobt jetzt in Temesvär. In Kronstadt greifen in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember Jugendliche gleichaltrige Rekruten mit Flaschen an, genau an der Stelle, an der zwei Jahre zuvor sich hungrige Arbeiter mit den Sicherheitskräften blutige Straßenschlachten lieferten. Diesmal zieht die Armee den kürzeren. Die Jugendlichen entwaffnen das Dutzend Soldaten und lynchen sie. So manche „private" Abrechnung wird mit Waffengewalt ausgetragen. 60 Tote beerdigte man noch zwei Tage vor der Jahreswende in einem Massengrab im Stadtpark.

Dennoch schöpft das alte Brasov neuen Atem. In den Kneipen spricht die Bevölkerung wieder ungarisch, deutsch und rumänisch. Die nationale Identität wird nicht mehr verborgen. Im Rundfunk werden plötzlich Schlager auf Ungarisch und Deutsch gespielt, eine katholische Messe wird aus der weltbekannten Schwarzen Kirche übertragen. Im Titelkopf der Tageszeitungen steht nicht mehr „getreu den Weisungen des Genossen Nicolae Ceausescu", sondern der „Neue Weg" nennt sich schlicht „Tagblatt für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur". Seitdem die provisorische Regierung, die „Front der Nationalen Rettung", den Startschuß für ein Mehrparteiensystem und freie Wahlen im kommenden April ausrief, sind Möchtegern-Politiker an jeder Straßenecke zu finden.

Bauern aus der Provinz sind angereist - nicht mit Fleisch und Gemüse, sondern mit Protestbriefen gegen die „stille Gegenrevolution" , wie sie es nennen. Sie schimpfen auf die „Wendehälse", die alten Funktionäre, die sich mit neuen Parolen weiterhin in ihre Machtsessel zurücklehnen. „In den Dörfern blieb alles beim Alten, Studenten, helft uns, die Bonzen zu vertreiben!", rufen die Bauern.

Die Kronstädter klatschen und sind zugleich verärgert: „Warum verkauft ihr uns kein Fleisch und Gemüse?" Immer wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten. Übermüdete Soldaten fuchteln mit den Gewehren aufgeregt umher, eilen blitzschnell an einen der „Speaker Corner", wenn dort zum Sturz der „neuen Roten" aufgerufen wird.

Obwohl über Radio ein Dekret dem anderen folgt, der „Rat der Nationalen Rettung" der Bevölkerung immer neue Zugeständnisse macht, eine freie Presse zuläßt, die Fünf-Tage-Woche einführt, Häftlinge amnestiert, die Todesstrafe abschafft - man traut Ion Iliescu und seiner achtköpfigen Mannschaft einfach nicht.

Julid: „Wie dumm ist nur das Volk. Endlich haben auch wir so etwas wie eine Solidarnos'c, aber Vernunft kehrt keine ein." Er greift zur Flasche.

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