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Total verrückte „Normalisierung“

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Wie steht nach einem Jahr Kriegsrecht der Alltag für die polnischen Bürger aus? Hat sich die Lage tatsächlich, wie offiziell behauptet, „normalisiert“? Ja, wenn Verrücktes als normal gilt.

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Wie steht nach einem Jahr Kriegsrecht der Alltag für die polnischen Bürger aus? Hat sich die Lage tatsächlich, wie offiziell behauptet, „normalisiert“? Ja, wenn Verrücktes als normal gilt.

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„Seit Jänner dieses Jahres bewachen die da draußen mich rund um die Uhr,“ sagt Waldek, zieht den Vorhang beiseite und deutet auf ein Auto. Zwei Männer sitzen drinnen, jausnen gerade, trinken Tee. „Heute sind es die mit der gelben Thermosflasche, morgen werden es die mit der grünen sein,“ weiß er.

Waldek, ehemaliger „Solidari- täts“-Aktivist in einem wichtigen Betrieb, seit dem 17. Dezember 1981 arbeitslos, obwohl er noch immer einen reduzierten Gehalt bezieht, hat sich wie seine ebenso gefeuerte Frau und die zwei Mädchen schon längst an die Bewachung gewöhnt.

„Als wir einmal im Schloßpark von Wilanöw spazieren waren und meine beiden Mädchen Ball spielten, ist er unseren ständigen

Begleitern vor die Füße gerollt, die haben ihn zurückgeworfen. Und daraus entwickelte sich ein Ballspiel zwischen meinen Kindern und diesen Typen“, sagt Waldek und meint dann sinnend: „Ist das nicht eine total verrückte Normalisierung?“

In der Tat. Und sie ist in vielen Lebensbereichen festzustellen.

Wer ein wenig Glück hat, kann zum Beispiel bei einer Taxifahrt eine Privatvorlesung in polnischer Literatur bekommen — von Maciej Wierszynski, dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung „Kultura“.

Der als zu liberal eingestufte Journalist konnte keinen anderen Job mehr finden — hätte er diesen nicht angenommen, dann wäre er unter die Bestimmungen des sogenannten „Parasitengesetzes“ gefallen, das den polnischen Behörden das Recht gibt, Arbeitslose auch zu Zwangsarbeit heranzuziehen — in Kohlengruben etwa.

Andere Journalisten arbeiten als Textilverkäufer, ein anderer

hat ein Antiquitätengeschäft in der Altstadt aufgemacht. Stefan Bratkowski, ehemals Vorsitzender des alten, inzwischen aufgelösten polnischen Journalistenverbandes und ein sprachgewaltiger politischer Kopf ersten Ranges, arbeitet nun als Redakteur bei der Blindenzeitung!

Die Zeitungen sind eine graue Propagandawüste. Nur die katholische Wochenzeitschrift in Krakau, der „Tygodnik powszechne“, bringt noch wirklich interessante Artikel. Er kennzeichnet jedoch die Streichungen der Zensur durch in Klammern gesetzte Punkte und zitiert die Paragrafen, nach denen die Zensur vorgenommen wurde. Dagegen kann die Zensur nichts haben …

Gelegentlich passieren den Zensoren freilich — wie es scheint — groteske Fehler. Im „Tygodnik“ etwa erschien kürzlich eine ausführliche Buchkritik vom Präsidenten des Schriftstellerverbandes, Jan Josef Scszepanski, über ein Werk von Zdislaw Najder — der derzeit der Leiter der Polensektion des so gehaßten „Radio Free Europe“ ist.

Polens Literaten vermuten nun, daß dies nicht unabsichtlich durch die Zensur rutschte, sondern daß man damit ein hervorragendes Mittel in der Hand hat, um einmal — wenn der Schriftsteller-

verband „gesäubert“ und mit einer neuen, regimetreuen Führung versehen werden soll — den jetzigen Präsidenten Scszepanski abzusägen.

Diese Methode wäre nicht ohne Beispiel. So konnte etwa in der Frauenzeitung „Kobieta i zycie“ unbeanstandet von der Zensur ein objektiver Artikel über den polnischen Diktator der Zwischenkriegszeit erscheinen, über Pilsudskį. Geraume Zeit später nahmen dies die Behörden zum Anlaß, um die Chefredaktion der Frauenzeitung auszuwechseln.

„Es ist wie in den stalinistischen Zeiten“, meint ein Schriftsteller, „nur weniger brutal, subtiler, weniger offen.“

„Ja, ja“, pflichtet ein Kollege-in bitterschwarzem Sarkasmus bei, „Jaruzelski wird in die Geschichte als der Erfinder des Stalinismus mit dem menschlichen Antlitz eingehen.“

Ein „sauberes“ Polen mit starken Strukturen der Staatsmacht — das hat der General deriNation versprochen. Im Parlament wurden Mitte Dezember auch neue scharfe Gesetze gegen die Korruption beschlossen, um die Lage zu „normalisieren“.

Aber die Wirklichkeit ist total verrückt.

Da wird zwar im Fernsehen eine Rentnerin angeprangert, die 100

Flaschen Wodka in ihrer Wohnung gehortet hat, oder eine Verkäuferin, die unter der Budei 5 Kilo Fleisch für sich behalten hat. (Nebenbei - kein Gesetz in Polen verbietet Hamsterkäufe.) Das wird von den Massenmedien als „Kampf gegen die Korruption“ gepriesen.

Nichts freilich ist zu hören, zu sehen oder zu lesen, wie sich die derzeit herrschende Kaste in Polen, die Militärs, im letzten Jahr rauschhaft und widerrechtlich bereichert hat.

Man weiß von feudalen Villen der Offiziere etwa in den Warschauer Vororten Magdalenka oder Zalesie. Sie wurden auf zwangsweise verbilligt abgegebenen Gründen errichtet, teils mit Baumaterialien aus Armeebeständen.

Der Direktor einer Möbelfabrik in Breslau weiß zu berichten, daß 80 Prozent der besten und teuersten Produktion für die höheren Militärs und ihre Villen bereitgestellt werden muß — entweder zum Vorzugspreis oder gar ohne Bezahlung.

Die Herren Offiziere, die ihre Privatautos mit Armeebenzin volltanken, wechseln rasch ihre Wagen. Steigen von einem „Skoda“ auf einen „Lada“, dann auf einen „Peugeot“ um. Ihre Mitbürger beobachten das alles sehr ge-

nau, mit Grimm im Herzen, aber

schweigend.

Würde man den Regierungssprecher Jerzy Urban darüber fragen, würde er sicherlich dementieren. Schließlich hat er auch etwas zu verbergen — seine feudale Villa in der Czarneckiego-Stra- ße in Warschau, die mit Marmor, Holzverkleidungen, offenem Kamin usw. ausgestattet ist.

Herr Urban wußte offenbar, wovon er redete, als er einmal, auf die Versorgungsschwierigkeiten der Bevölkerung angesprochen, antwortete, die Regierung werde sich immer ernähren können. Vielleicht sollte sich General Jaruzelski, der persönlich dem Luxus abhold ist und spartanischbescheiden lebt, einmal über die Lebensumstände seiner Offiziere und unmittelbaren Untergebenen erkundigen…

Die örtlichen Polizei- und Verwaltungsbehörden sind es etwa, die über Befehl von oben gelegentlich Razzien auf den überall blühenden Schwarzmärkten durchführen. Widerwillig: Denn meistens sind sie bestochen und verlangen „Naturalabgaben“ von den Schwarzhändlern, die gegen die „grüne Währung“ (also den Dollar) oder horrende Zloty-Beträge so ziemlich alles anbieten, was in den Geschäften fehlt — von den Jeans aus der DDR über den Truthahn bis zu Schreibmaschinenfarbbändern.

Auch Medikamente werden am Schwarzmarkt gehandelt — eine Schachtel Aspirin kostet bis zu fünf Dollar, das ist nach dem Schwarzmarktkurs fast ein Drittel eines durchschnittlichen Monatsgehaltes in Zloty. Kriminell organisierte Banden vertreiben die lebenswichtigen Medikamente. Cytostatika, also Krebsmedikamente, Insulin oder andere hochspezialisierte Arzneien werden nicht einmal mehr für Valuten abgegeben, sondern nur noch gegen Silber und Gold (und sei’s der Ehering …)

Ein Bekannter, dessen Frau im dritten Monat der Schwangerschaft Blutungen bekam wurde zwar in ein Krankenhaus eingeliefert — aber das hatte das benötigte Medikament nicht. Verzweifelt raste der Ehemann in ganz Warschau von Spital zu Spital, von Apotheke zu Apotheke — bis er es endlich kaufen konnte.

Aber dann war es leider schon zu spät. Im Gesundheitsministerium aber erklärt man offiziell, die Lage auf dem Medikamenten- sektor sei „nicht dramatisch“. Alles normalisiere sich

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