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Das Hemd ist näher als der Rock

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Die sowjetische Presse kritisiert in vielen Artikeln gewisse Erscheinungen in der seit dem Tode Stalins dezentralisierten sowjetischen Industrieverwaltung. Dabei wird immer wieder das bei allen Völkern gebräuchliche Sprichwort vom Hemd, das dem Menschen näher ist als der Rock, zitiert, indem diese Binsenwahrheit, auf die sich der Russe besonders gern beruft, bekämpft wird. Nebenbei gesagt, wird dieser Kampf immer wieder periodisch seit vierzig Jahren geführt, immer wieder auf einem anderen Gebiet. Es zeigt sich jedoch, daß der Versuch, die Menschen davon zu überzeugen, daß der Rock und nicht das Hemd dem Körper näher liegt, immer wieder zum Scheitern verurteilt ist.

Dieses Mal handelt es sich um die dezentralisierte Industrie, die statt den früher einigen Zeptralnjinisterien in Moskau nun etwas, über hundert Volkswirtschaftsräten in den Republiken und Provinzen untersteht. Dabei haben noch die einzelnen Unternehmen eine weitgehendere Betriebsautonomie als früher erhalten. Diese Reform war nicht nur so gedacht, um den Bürokratismus in der Industrie zu mildern, sondern sollte auch ein Teil des weit gesteckten Reformprogrammes Chruschtschows, der eine vermehrte FödCralisierung der Sowjetunion und gleichzeitig den Beginn einer Wirtschaftsdemokratie verkündet hatte, vörwärtsbringen. Früher war beinahe jede Fabrik in der Sowjetunion, auf jeden Fall jede bedeutendere, dem betreffenden Industrieministerium' in Moskau unterstellt. Die lokalen Gewalten hatten auf diese Unternehmen, die

Unionsangelegenheiten waren, so gut wie gar keinen Einfluß, weder im Personellen noch im Materiellen. Die einzelnen Betriebe mußten wegen jeder Kleinigkeit um eine Entscheidung in Moskau nachsuchen. Nun kehrte man zur Theorie Lenins zurück. Die Zentralstellen wurden aufgelöst und, wie schon erwähnt, rund hundert lokale Volkswirtschafträte gegründet. Sie sind für die Industriewerke in ihrem Bereich die höchste Instanz. Die Leitung der Volkswirtschaftsräte wird allerdings von Moskau eingesetzt. Auf die Ernennung der übrigen Mitglieder haben die lokalen Gewalten dagegen einen starken Einfluß. Es war dabei jedoch nicht daran gedacht, daß als Folge der Reform die

Industrie aus den zentralen Plänen ausbricht. Die Staatsplankommission der Sowjetunion, welche die Rechte eines Ministeriums hat, stellt die Gesamtpläne für die Industrie der ganzen Sowjetunion auf und in diesem Rahmen auch die Pläne für jedes einzelne Wirtschaftsgebiet. Kontrolliert wird die Ausführung der Pläne durch das Ministerium für Staatskontrolle, eine Art von Rechnungshof mit erweiterten Befugnissen. Das ist die Kette, womit Moskau die rund hundert Wirtschaftsräte in der Hand zu behalten vermeinte.

Es hat sich jedoch gezeigt, daß wie die einzelnen Volkswirtschaftsräte so auch die Manager der einzelnen Industrieunternehmen und ihre Mitarbeiter bedeutend schlauer und wendiger sind als die Zentralregierung. Das ist übrigens auch kein Wunder, denn seit vierzig Jahren übt sich der Sowjetbürger in allen Verhältnissen und l'SteUüngeh därififfwie-ef nai c’Mög)ichk8ft'®eri: allgewaltigen Staat hintergehen kann, seine eigenen Interessen wahrt und dabei doch so geschickt durch die staatlichen Verordnungen schlüpft, daß man ihm nichts anhaben kann. Das ist auch jetzt so. Was Produktionsziffern, Finanzpläne und Umsatzmengen anbelangt, erfüllen natürlich die Wirtschaftsräte ihren vorgeschriebenen Plan. Damit sind sie oder waren sie bis jetzt wenigstens vor der Staatskontrolle gesichert. Jedoch bei Bestellungen und Lieferungen, bei der internen Verwendung gewisser Finanzmittel kümmern sie sich immer weniger um die Interessen der Gesamtunion, sondern verschaffen ihrer engeren Umgebung höchstmögliche Vorteile. In der Sowjetunion, auch innerhalb der reinen Staatswirtschaft, herrscht immer noch drückende Mangelwirtschaft. Für jede Lieferung gibt es lange Wartezeiten. Die Volkswirtschaftsräte haben sich darum zur Gewohnheit gemacht, ohne Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Landes die Industrien in ihrem eigenen Amtsbereich zu bevorzugen. Für jeden Volkswirtschaftsrat wurde auf diese Weise oft das Gebiet eines andern Volkswirtschaftsrates zu einer Art von feindlichem Ausland. Man erreichte damit vielerlei Vorteile. Vor allen Dingen blieben gewisse Finanzmittel in den Händen des betreffenden Volkswirtschaftsrates. Man stand auch bedeutend besser mit den lokalen Gewalten, mit denen man ja zuerst Zusammenleben mußte und von denen man seinerseits gewisse Gefälligkeiten erwartete. Der Volkswirtschaftsrat der einzelnen Provinz erzielte damit unter Umständen auch Vorteile von Moskau selbst. Denn durch die Bevorzugung der Betriebe im eigenen Amtsbereich konnte man das Plansoll selbstverständlich leichter erreichen oder sogar überschreiten, worauf es dann Orden, Titel, Kredite und andere materielle Zuwendungen gab. Bis es jetzt herauskam, daß alle diese Erfolge im Grunde genommen auf Kosten eines anderen Wirtschaftskreises erreicht worden sind. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Im Donezer Kohlenbecken in der Ukraine gibt es auch zahlreiche Maschinenfabriken. Die Kohle und auch die Maschinen sollen so geliefert werden, daß sie nach der Wichtigkeit der einzelnen Industrien in der Gesamtunion verteilt würden. Man bevorzugte jedoch die Industrie, welche dem Volkswirtschaftsrat Charkow untersteht und darüber hinaus die Industrien der ukrainischen Sowjetrepublik. Die Industrien im Ural dagegen oder in Zentralrußland, die ebenfalls auf Lieferungen aus der Ukraine angewiesen sind, mußten zuwarten. Den Leuten in der Ukraine war es vollkommen gleichgültig, daß auf diese Weise die Erfüllung des Plansolls in einem anderen Gebiet sabotiert wurde. Das Hemd war einem eben näher als der Rock! Man kann dabei noch ein anderes Sprichwort verwirklichen, das da lautet: Eine Hand wäscht die andere. Wenn man in seinem eigenen engeren Lebenskreis Bevorzugungen übt und Gefälligkeiten erweist, dann kann man auch auf Gegenrechte zählen.

Damit kommen wir auf eine zweite Erscheinung in der heutigen Sowjetwirtschaft. Einfach gesagt, handelt es sich hier im Grunde um eine Art kollektiver Korruption, die jedoch juristisch nicht als solche faßbar ist. Dabei geht es nicht mehr nur um wirtschaftliche Bevorzugung des eigenen Gebietes, sondern um persönliche Vorteile des einzelnen. Auf diesem Gebiet besteht in der Sowjetunion geradezu eine Meisterschaft. Die individuelle Korruption, die primitive Bestechlichkeit hatte man mit Hilfe der Todesstrafe so ziemlich ausgemerzt. Allerdings wird nach dem Gewohnheitsrecht immer noch in gewissen Grenzen ein Diebstahl am Staatseigentum toleriert. Ein Beispiel hierfür: Irgendeine Stelle verkauft oder verteilt Lebensmittel. Die an der Quelle sitzen, die Angestellten der betreffenden Organisationen, stehlen natürlich. Man kann schließlich nicht alle einsperren. So wird darum dekretiert, daß in einem bestimmten Zeitraum durch „Eintrocknen" oder „Verschleiß“ ein gewisser Prozentsatz der Ware verschwindet. Durch sorgfältiges Vorgehen können die Angestellten nun so operieren, daß dieser Prozentsatz — es kann sich dabei bis zu einem Viertel des Wertes handeln — in ihre Taschen fließt. Dann kam ein findiger Kopf in der Zentrale auf eine neue Idee. Es wurden Prämien ausgeschrieben für Einsparen von Verlusten. Man stellte sich vor, daß schließlich die einzelnen Angestellten die erschlichenen Waren doch irgendwie verkaufen mußten. Das war schon eine illegale Handlung, die mit Risiken verbunden war. Es konnte darum für die Angestellten von Vorteil sein, wenn sie einen kleineren Betrag offiziell als Prämie annähmen, anstatt Umtriebe und Risiken zu haben.

In der Industrie gibt es natürlich noch ganz andere Möglichkeiten. Hier handelt es sich darum, unter dem Deckmantel der Legalität möglichst viele Vorteile für den einzelnen herauszuschlagen. Das geht nur kollektiv. Will der Direktor® bin''neues-'iČhlfoereF'įlaūs 'haben, so muß er darauf sehen, daß sein Werk eine ganze Wohnbauaktion startet. Wenn sein Chefbuchhalter nun kein Interesse an einer neuen Wohnung hat, so muß er wissen, daß demnächst eine andere Aktion stattfindet, bei welcher er dann in anderer Hinsicht zu seinem Vorteil kommen wird. Es würde viel zu weit führen, wollte man auch nur einen Teil der Kunstgriffe schildern, die üblich geworden sind. Da werden Bilanzen frisiert, Gelder abgezweigt, Kredite für etwas ganz anderes verwendet, als wofür sie bewilligt worden sind. Dabei sind diese Geldtransaktionen nicht einmal das Schlimmste. Wie gesagt, herrscht in der Sowjetunion immer noch Mangelwirtschaft. Wenn also Baumaterial beschafft wird unter falscher Prioritätsangabe, nicht um Fabrikbauten zu erstellen, sondern eine Reihe von Wohnhäusern, so fehlt eben dieses Baumaterial irgendwo für volkswirtschaftlich wichtige und dringliche Bauten. Nun hat jedes Werk auch eine Abteilung, welche die Belegschaft mit Gebrauchswaren zu versorgen hat. Diese Versorgungsabteilungen besitzen oft auch eigene landwirtschaftliche Betriebe. Nach dem Prinzip, eine Hand wäscht die andere, werden da die mannigfaltigsten Transaktionen durchgeführt, um sich Vorteile zu verschaffen.

Diese beiden Erscheinungen, die Tendenz der Volkswirtschaftsräte, ihr eigenes Amtsgebiet zu bevorzugen, und die Tendenz der eigenen Betriebe, sich selbst möglichst große Vorteile zu erschaffen, ergänzen und überschneiden sich. So fällt alles in den Begriff eines zu bekämpfenden „falschen" Lokalpatriotismus.

Wie schon erwähnt, werden immer wieder seit 40 Jahren ähnliche Feldzüge geführt. Eigentlich ohne Aussicht, die bemängelten Erscheinungen für immer zu überwinden. Die Plankommission, die Staatskontrolle und die Parteiorgane melden der Regierung und Parteizentrale die bedenklichen Erscheinungen. Die Parteizentrale erläßt die Weisungen an die Propaganda und die geheimen Befehle an die Partei- und Staatsstellen. Der Feldzug rollt an, erreicht seinen Höhepunkt. Einige Zeit ist man etwas vorsichtig. Eines Tages werden jedoch die Aktendeckel zugemacht. Dann beginnt das alte Spiel wiederum von (neuem. Denn das Menschliche ist eben nicht weg- zudekretierer

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