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Neofaschismus — das kopflose Gespenst

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Es ist in Italien längst kein Kunststück mehr, mit Faschisten ins Gespräch zu kommen; man findet sie überall: in den Trattorien, in Kaffeehäusern und geselligen Zirkeln. Sie machen kein Hehl aus ihrer Gesinnung, und sprechen unbefangen von den Monaten und Jahren, die sie nach Kriegsende im Kerker verbracht haben. Sie erklären ohne Scheu, bis ans Lebensende Faschisten zu bleiben, doch haben sie fast alle eines gemeinsam: sie sprechen lieber von der Vergangenheit,’ von dem was war, als von der Gegenwart oder Zukunft. Sie beschäftigen sich kaum mit Programmen und politischen Thesen, und ihre Aspirationen erschöpfen sich meist in dem Wunsch, das Andenken des „ventennio” — der zwanzig Jahre Faschismus — vor der Geschichte zu rehabilitieren.

Und damit berühren wir das entscheidende Moment des ganzen Problems: es gibt in Italien noch zahlreiche Faschisten, eine kaum getarnte faschistische Partei (sie nennt sich „movimento sociale italiano”) und etliche einwandfrei faschistische Blätter, aber es gibt keinen — Faschismus…

Der Umstand, Faschist zu sein, ist heute weder aufregend, noch gefährlich, sondern stellt ein vom Staat stillschweigend geduldetes „Capriccio” dar. Das Absingen der alten Kampflieder ist verboten, doch werden Übertretungen meistens als „nächtliche Ruhestörung” oder überhaupt nicht bestraft. Obwohl es ein Gesetz gibt, das jede „apologia al fascismo” — jede Verherrlichung des Faschismus — unter Strafe stellt, kann man an jedem Kiosk Zeitungen kaufen, in denen die Größe des verwehten Regimes gepriesen wird, und aus der Fülle der überall zur Schau gestellten Broschüren leuchtet unbefangen der in Rot und Schwarz gehaltene Umschlag von Mussolinis kürzlich veröffentlichtem „politischen Testament” heraus.

Als in diesen Tagen die Dachkonstruktion der berüchtigten Tankstelle auf der „Piazza Loreto” in Mailand abgerissen wurde, boten „Unbekannte” den runden Betrag von zwei Millionen Lire für die fatale Eisenschiene, an der am 29. April 1945 die Leichen Mussolinis und seiner Getreuen an den Beinen aufgehängt waren, ohne daß die Polizei nach den Urhebern des seltsamen Angebotes gefahndet hätte.

Nachdem die erste blutige Welle der politischen Abrechnung verrauscht war, und die groben Irrtümer der darauffolgenden, unblutigen Phasen immer offensichtlicher zu Tage kamen, entschloß sich das demokratische Italien, gegen den Faschismus in Hinkunft das einzig Richtige zu tun: nämlich gar nichts. Die sofort nach Kriegsende im Überschwang des neuerwachten demokratischen Eifers eingeleiteten Maßnahmen, Staatsverwaltung und Volkswirtschaft von allen Elementen zu säubern, die unter dem „Regime” zu Einfluß und Ansehen gelangt waren, haben so erheblichen Schaden angerichtet, daß die Parteien selbst nach einem gangbaren Weg zu suchen begannen, die Ausgestoßenen wieder in den Verband der Nation zurückzuführen. Die Italiener haben sehr rasch begriffen, daß eine in 23 Jahren geordneten staatlichen Lebens herangewachsene „classe dirigente” (Führerschicht) nur zu einem Teil aus Verbrechern bestehen kann, während der Rest (einem bisher nicht widerlegten Gesetz zufolge) eine natürliche Auslese darstellt, die auf Jahrzehnte hinaus im Leben des Staates durch nichts Gleichwertiges zu ersetzen ist. Zahlreiche Urteile wurden revidiert, dann kam die große Amnestie, die Gefängnisse leerten sich und viele von den „Lebenslänglichen” sind ohne Aufhebens in ihre alten Berufe zurückgekehrt. Politisch aber stehen sie abseits, und haben vorläufig kein anderes Programm, als „einem Toten die Treue zu halten”. Die Regierung hütete sich wohl, geräuschvoll und geschäftig gegen einen Gegner zu fechten, dessen Schwäche eben gerade darin bestand, daß er sich von dem Sicherheitsgürtel der öffentlichen Indifferenz umgeben sah und der eigenen Ernüchterung nicht Herr zu werden vermochte.

Jene Unwandelbaren, die hie und da die „giovinezza” anstimmen, mit erhobenem Arm zu dem „historischen” Balkon des Palazzo Venezia hinaufgrüßen, oder am Jahrestag von Mussolinis Tod schwarze Nelken im Knopfloch tragen, werden von den Italienern mit einer gewissen mitleidigen Nachsicht „i nostalgic!” — die Sehnsüchtigen — genannt; „Sehnsüchtige” können gefährlich sein, wenn ihr Sinn nach Neuem und noch Unerfülltem steht. Alles aber, was die Neofaschisten heute bewegt, liegt in der Schattenwelt des Unwiderbringlichen, und ihre „Sehnsucht” verdorrt in der tödlichen Wüste einer ausweglosen Resignation.

Das Volk Italiens kann vieles verzeihen, sogar den Schiffbruch einer Partei, die für fast ein Vierteljahrhundert die eigene Unfehlbarkeit gepredigt hatte, nicht aber die „Selbstentgötterung” einer legendären Gestalt. Die Skepsis und- der scheinbar unbestechliche Tatsachensinn des Italieners gegenüber doktrinären Fragen werden reichlich ausgewogen durch seinen uneingeschränkten Glauben an das „Individuum”. Dies erklärt ohne weiteres, daß im Lande Cola di Rienzis die Persönlichkeit, der „Kopf” wichtiger ist als die Idee, der Nimbus überzeugender als die Realität. Der Faschismus ist für die Italiener niemals eine „staatstragende Idee” gewesen, sondern ganz einfach das politische Konzept jener faszinierenden Kreatur, die Mussolini nun einmal war.

Als der Stern des „letzten Römers” zu sinken begann und schon die Schatten des Verhängnisses seine Bahn verdunkelten, bewahrte das Volk die unausgesprochene Zuversicht, daß der Mann, der sich immer wieder zu dem Grundsatz bekannt hatte, lieber einen Tag als Löwe, denn hundert Jahre als Schaf zu lebep, stolz und unbesiegt in den Tod gehen werde. Als der Verkünder des „vivere pericblosamente” — des gefährlichen Lebens — sich daher am Ende seiner Laufbahn ganz undramatisch fangen, für eine letzte Nacht in eine Bauernkate sperren und am darauffolgenden Tag von einem kommunistischen Buchhalter — der sich damals unter dem- romantischen Decknamen „Colonelo Valerio” verbarg — sang- und klanglos an eine Mauer stellen und abschießen ließ, hat das etwas bewirkt, was man im Italienischen „rompere l’incanto”, den Zauber zerreißen, nennt, und das haben sie ihm mehr übelgenommen, als den Achsenpakt und den verlorenen Krieg.

Die Italiener wollen an ihre Götter — die echten und die falschen — glauben; und wenn das unerbittliche Schicksal ihren Untergang beschlossen hat, dann kann sie nichts von der Verpflichtung lossprechen, mit ihrem Tod eine Legende zu vollenden. Mussolini hat — schuldig oder schuldlos — die Gelegenheit verpaßt, als Löwe zu sterben. Das Unbegreifliche, daß er so jammervoll „menschlich” zugrundegegangen ist, daß der Pöbel einen ganzen Tag lang ungestraft seinen zerschundenen Leichnam bespucken und besudeln durfte, hat dem Faschismus mit dem ‘„Kopf” auch den Nimbus gekostet, und im Volk für alle Zeit die teure Illusion zerstört, für mehr ajs zwanzig wechselvolle Jahre der magischen Hellsichtigkeit eines außerordentlichen Individuums gefolgt zu sein.

Nach allem was geschehen, ist der Neofaschismus keine Gefahr für Italien, wohl aber können es die Faschisten gewissermaßen in passivem Sinn werden: sie sind heute so gefährlich — oder ungefährlich — wie etwa eine ihrer Zündvorrichtung beraubte Bombe, deren Sprengkraft damit ja zwar gebunden, nicht aber ausgelöscht wird. Sie sind gegenwärtig nur eine Vielheit zerstreuter, unmeßbarer Kräfte und gehören gerade deshalb zu den Imponderabilien der Innenpolitik. Sie können eines Tages, und ganz unvermutet, als führerlose Masse auf die “Waagschale der demokratischen Entscheidungen drücken, und die Konstellation der Kräfte über den Haufen werfen, auch wenn sie vorerst wie einer der „Getreuen” selbst bekannte — nichts weiter sind als eine „Brüderschaft der Gescheiterten, deren politisches Bewußtsein auf dem Loretoplatz verblutet ist”.

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