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Winke fürs Möwenfuttern

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Im allgemeinen sehen die Möwen bekanntlich aus, als ob sie Emma hießen, was ja schon auf bedeutendes Körpergewicht schließen läßt — für die Möwen von Jütland kann das aber kaum gelten, da man sie in ihrer Zierlichkeit eher auf „Fanny“ taxieren möchte. Sie durchhacken ihre Eierschalen in Jütland und erblicken dort Schilfstengel, Heidekraut, Sanddünen und sehr viel Wellen. Die Jütländer haben weit mehr Himmel als ebene Erde und schweifen mit ihren Gedanken durch die Luft als gute Träumer und Denker: Hans Christian Andersen und Sören Kierkegaard, die beiden Dänen, die die Welt eroberten, waren Jütländer wie unsere Möwen auch. Gegen Herbst aber sagen die Eltern: „Liebe Möwenkinder, es weht kühler, ihr habt nun schon ein wenig fliegen gelernt — morgen wird gepackt, und übermorgen geht es auf und nach Zürich!“

„Zürich, was ist das?“ fragen die Jungen und halten den Kopf etwas schief, um besser einzusehen. „Oh, das ist eine sehr gute Stadt, dort bringen die Leute Tüten ans Ufer, ihr werdet schon sehen!“ Welches aber ihre Flugroute ist, weiß ich nicht; jedenfalls sind sie plötzlich da, besäumen wie ein verfrühter Schneefall die Ufergeländer, die Dächer der Badeanstalten und stehen besonders gern auf hevorragenden Dingen, zum Beispiel auf den Köpfen hervorragender Menschen, denen man ein Denkmal gesetzt hat. So ein Genie muß sich sagen: Jetzt habe ich noch meinen Kopf — dann läuft er zu grüner Bronze an — dann kommt eine Möwe drauf — und dann ein weißer Klecks! (Bürgermeister Waldmann hat wenigstens seinen Schutzhelm.) Der Vogel, den manche Genies zeitlebens im Kopf hatten, steht jetzt mit roten Stelzen auf diesem und betrachtet sich einmal die Welt, wie sie wirklich ist.

Das Wunder des technischen Fliegens hat sich mit dem Jahrhundert abgebraucht, und wir heben kaum noch den Kopf, denn was kümmert uns dieses Automobil in der Luft. Das ist bloß eine Art Drillbohrer, der der Atmosphäre angesetzt wird; so ein Surren von oben erinnert an Bomben, aber auch an irgendeinen Zahnarzt, der den hohlen Himmel behandelt. Um so mehr aber bewundern wir heute den Vogelflug, denn nun wissen wir, was diese Leichtigkeit kostet. Ein frommer Sinn verlieh den Engeln Schwingen, weil das die geistigste Fortbewegung ist — „ein Flügelschlag, und hinter uns Äonen“ —, die Engel leben wirklich nur von Luft und Liebe. Denn Luft ist Atem, und Atem Geist: selbst im Pneumatik liegt das Pneuma eingeschlossen. Atmen kommt noch vor Essen, und seitdem Adam, dem Erdenkloß, der Odem eingehaucht wurde, leben wir Menschen vom Geist, wie wir vom Atmen der Luft leben. Die Möwe nun, aufgeplustert auf dem Geländer stehend, erreicht ihr Genie erst in der Luft — erst dort im Nichts wird sie etwas, denn sie ist der Luft vermählt, eine Windsbraut, und ihr Flug das Poetischeste und Praktischste, was es gibt: traumhaft, gedankenschnell — auf den Bissen zu! Selbst der alte Brehm wird zum Didier, wenn er die Möwe schildert: „Sie liegen leicht wie Schaumbälle auf den Wogen und stechen durch die blendenden Farben von diesen so lebhaft ab, daß sie für das Wasser ein wahrer Schmuck sind.“ Aber nun erst, wenn sie vom zweidimensionalen Wasserspiegel sich plötzlich in den Raum mobilisieren und jetzt, durch einen geheimnisvollen Massenwillen erregt, wie eine Wolke von Riesenschneeflocken durch die Luft wirbeln — dann sind sie geistiger als jeder Volksauflauf, weil Fliegen die wirklichste, die dreidimensionale Bewegung istl Fast schöner noch aber ist das einreine Möwenkörperchen, wenn es, die Beine an den Fächerstoß zurückgelegt, langsamen, leichten Flügelschlages ein-herschwebt. Wie dem Schwimmer das Wasser körperhaft wird, so vermag auch Ihr die Luft je nach Lust ganz dünn oder ganz dicht sein: sie ist ein Skulptor des Äthers.

Wie soll man so etwas nicht füttern? Am Bürkliplatz in Zürich gibt es die beiden Furten der Tierliebe, wo Kinder, Schwäne, Eltern, Enten, Möwen und sogar Herren mit Aktentaschen stumm herumstehen und versuchen, ob sie nicht aus der Hand fressen werden. Natürlich verdirbt das die Tiere, sie werden zu Parasiten; aber wichtiger ist, daß man wenigstens eine Gelegenheit findet, seine Sympathie zu bezeigen. Hier geht die Tier-liebe durch den Vogelmagen. Doch auch Gerechtigkeit muß sein, wie beim lieben Gott: „Geh, gib's ans Taucherli!“ ruft die mitleidige Mama dem Töchterchen bei der Ubergabe der Tüte zu, denn die Möwen schnappen alles vorweg. Aber das Taucherli hat blöde Unterwasseraugen: seine Waffe im Lebenskampf besteht aus einem Schwups! — daß nur noch perlende Blasen übrigbleiben und die Frage, wo es wieder auftauchen wird? — sonst kann es nichts. Die Möwen aber, die haben Augen! Und dazu Rachen, bis ans Auge gespalten, aus denen beim Hinschnappen jedesmal ein Jauchzerton dringt.

Darum ist Möwenfüttern etwas Besonderes: ein Vergnügen, an dem man mitschaffend teilhat. Und zwar gibt es drei Arten: erstens das „Künstler- und Bürger“-Spiel, zweitens das „Karussell“ und drittens die „Wand“. Bei „Künstler-und Bürger“ steht man oben auf dem Kai und wirft ab und zu einen Brocken nach unten. Was unten schwimmt, Schwäne, Enten, Taucherli, das sind die Bürger. Was aber oben fliegt, das sind die Möwen, die Künstler. Diese Luftartisten suchen den Brocken im Fluge zu erhaschen — sie setzen ihre ganze Kunst für ein gewagtes Stück ein, und es gelingt oder es gelingt nidit: Künstlerbrot. Gelang es aber nicht, so fällt der Brocken hinunter aufs Wasser zu den paddelnden Bürgern, und die kriegen ihn dann sicher, er schwimmt ja vor der Nase... Bei der nächsten Art des Fütterns wirft man den Brocken nicht nach unten, sondern nach oben in die Luft. Hiedurch bildet sich das Möwenkarussell: sie fliegen wie ein riesiges weißes, langsam sich drehendes Rad immer wieder am Spender vorüber, halten vor ihm einen Moment heischend-krei-schend inne, und drehen sich dann in derselben Runde weiter bis zum nächsten Male. Entzückend ist es zu sehen, wie sie schon vor der Entscheidungsstelle kunstvoll abbremsen, um dir vis-a-vis als begehrender Helikopter möglichst lange zu vibrieren. Verfehlt eine Möwe den Bissen, so schießt sie im Kopfsturz nach; schleuderst du ihn jedoch über sie hinüber, so wirft sie sich kopfüber rücklings nach hinten und schnappt ihn dennoch, so daß man applaudieren oder sie streicheln will (wofür sie sich schönstens bedanken würde!) Der Kenner aber füttert nicht vom Kai aus, sondern von einer Brücke, und zwar bei Wind, nämlich so, daß der auf die Möwen zu weht. Denn Vögel fliegen am besten gegen den Wind, weil er ihre Flügel nach oben drückt. (Auch Zugvögel machen ihre Langflüge gegen den Wind; Hinterwind würde sie hinabdrücken.) Wirft man jetzt ganz schnell einen Brocken nach dem anderen hoch, so können die Flieger, auf den Wind gestützt, stehenbleiben, und es erhebt sich vor dir eine ganze Wand flat-tender, jauchzender Möwen — alle Rachen dir zu, alle Augen auf dich, so daß einem vor dem tobenden Element fast bänglich wird: alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle. Und noch eh man sich's versah, ist im Aug die Kralle... Doch nein, nur du bist mißtrauisch; denn sie sind ja Kinder! Wilde Tiere werden nur von ihren Eltern gefüttert, sonst nie mehr im Leben: du bist Elternersatz, und sie sperren die Schnabel auf wie einst im Nest. Sie fliegen millimeternah an deiner Wange vorüber, du fühlst die Schwingenluft, doch nie hat eine Feder dich berührt .

Und warum macht man mit ihnen solche Kunststücke? — weil sie selber Kunststücke machen. Haben Sie es bemerkt, wenn Kinder über die Straße laufen (man hat ihnen tausendmal gepredigt, sich vor den Autos in acht zu nehmen), wie sie aus dieser vorschriftsmäßigen überquerungsangst ihren Jux machen? Auch wenn die Straße leersteht, fassen sie sich lustig bei den Händen und laufen schreiend, wie vor einem Ungeheuer flüchtend, zum Trottoir hinüber. Sie haben aus einer Notwendigkeit ein dramatisches Märchen geschaffen. Und so ist es auch mit den Möwen, sie wollen was schnappen, gewiß, aber zugleich ist es ein Sport, ein Spaß, ein Möwenolympia!

Schon der unterdrückte Jauchzerton, mit dem sie von ferne zum Tütenmann hinfliegen, zeigt mehr Lust als Hunger an. Und nun demonstrieren sie in Kapriolen, Balancierakten und Hochakrobatik, was man mit zwei Flügeln und Luft alles machen kann — es sind flatternde Flugfeste, schwebende Höhepunkte ihrer Existenz. Natürlich schreien sie dabei; sie sind ja Kinder, und Kindsein besteht darin, aus allem ein Spiel zu machen.

Darum eben muß man beim Füttern mit ihnen mitspielen.

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