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DIE NEUE STRASSE

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Ohne jene Gasse dort, und dort wieder eine und dort noch eine, und ohne jene Gassenröhren, die sich am Ende in ein Magazingefäß für Parkanlagen ergießen, und wo sich der Park dehnt wie ein Gummi, wo dann die Gassen aus angespanntem Gummi eine neben der anderen liegen und jederzeit zusammenzustoßen drohen, dort sind schon wieder N achibargassen, ohne diese und ohne das, was in allen Gassen ist und was die Gassen erste zu Gassen macht, und ohne jene parallelen Bänke in den Parkanlagen und ohne das Mädchen, das auf dem Heimweg stehenbleibt, die Schultasche ablegt und sein kleines Köpfchen über ein Frauengesicht beugt, über ein noch niemals gesehenes Frauengesicht, das nach oben gewandt auf der Bank liegt und dem sich das Regenwasser im Mund zu einer Pfütze sammelt, denn den ganzen Tag über regnet es schon, und den ganzen Tag schon liegt der Frauenmund auf der Bank und das Mädchen kann ihm nicht klarmachen, daß es regnet, daß es stark regnet, daß Regen fällt und daß das doch etwas zu bedeuten hat, wenn Regen fällt, daß das heißt, sie solle nach Hause gehen, die Frau, weil sie doch nicht hier auf der Bank liegen könne, da es so sehr regnet, ohne jene aschgraue Nacktheit, die der Regen auf den weiblichen Brüsten auftürmt,

und ohne jenes Lächeln ihrer dünnen Hände, die über den Rand der Bank hängen wie weiße Sprünge in der Nacht, die aber nur ein kleiner Abglanz der großen und muskulösen Hände sind, die vom Mond in die dämmerige Gasse herabhängen,

und ohne den Mond, der sich über den Himmel zieht wie eine Reihe von Buchenhölzern, und ohne das große Feld, das größer ist als der Mond und das hier liegt und das unermeßlich ist in der Begrenzung der Ebene und dessen Begrenzung Behälter voll Menschen in sich aiufgenommen hat, ohne diese Menschen, die jetzt hier liegen, all die vielen, die hier liegen, eben wie die Erde, zerfallen im Reich des Nichts, ohne Glieder, Knochen, Mund und Gebiß, ohne Augen, Haut und Köpfe und ohne Blut, die aber trotz allem noch hier liegen, weit entfernt vom Buchenmond, auf das Feld hingesät und hingeweht von den Flügeln des Windes, der Schatten in den Gräben wirft, und ohne Stöhnen aus dem Grunde, der übersät ist mit Mündern, Mund neben Mund, ein Grund aus lauter Menschenmündern, die einst gesprochen, geküßt haben und jetzt entsetzlich weit geöffnet sind, unfähig für Worte, mit Erde bedeckt, eine hohe Schichte entsetzlich geöffneter Münder, die das Feld bedecken, so daß ununterbrochen jemand auf einen Mund stößt, ohne Nägel aus Erde, die in jeden einzelnen Mund geschlagen sind, und ohne Asche, deren die Ebene voll ist, die aneinander haftet, erst in Klumpen, dann in Bündeln, schließlich in Schichten, die sich vom Boden zu erheben suchen, aufrauschen, in sich zusammenfallen, stöhnen, seufzen, sich bewegen, in Körperformen wachsen und in Körpern erstehen,

ohne dieses Auferstehen lebendig gewordener Körper und ohne das Kommen erschlagener und erstickter Schreie, von überallher, aus der Erde, aus dem Wind, der nach verbranntem Frauenblut riecht, aus Gräbern in Scharen und mit Särgen voll Erde, uuuh, lauter Särge aus brauner Erde, uuuh, und Brüste aus Lehm, und ohne jene Menge, die wächst und größer wird und schließlich unübersehbar wird und sich jederzeit zu einem feierlichen giegreichen Marsch ausweiten kann, zu einem gedehnten Nebel der Fäulnis, ohne jene großen Scharen, die drohen, einen Schrei nach allen Windrichtungen auszustoßen, einen verleugneten,

unterdrückten, bis jetzt in den Staub gestoßenen, vom ersten Funken zu entfesselnden Schrei, der zu einem Donner an- wachsen und alles zerstören wird, was man zerstören und verwüsten kann, und der alle Welt mit der dortigen Wahrheit anstecken wird, ohne jene Scharen, die sich dann tatsächlich vom Felde losreißen, sich fortzudrängen beginnen, immer schneller gleiten, einander brechen, niederstoßen und drängen, sich schließlich in das betäubende Gleiten einer Lawine verwandeln, die sich von dort fotwälzt, fort von diesem Feld, doch endlich fort von diesem Feld nach Hause, und ahne jenes Schreien, das jetzt noch ferne ist, jetzt schon ganz nahe und eben jetzt in allen Gassen, auf allen Dächern, auf allen Schwellen, auf den Stiegen und in den Zimmern, die den Ansturm der Wahrheit von dort kaum ertragen können, die die Menge im Chor herausschreit, die ganze Stadt und alle Gegenstände sind von ihr bedeckt, sie ist drohend und tötend und durchschlagskräftig, daß die Menschen im ersten Augenblick erwachen, sich verwirrt im Bett aufsetzen und zitternd die Lichtschalter zu suchen beginnen,

und ohne diese vom Suchen nach Lichtschaltern vereinsamten Hände, die dort sachen, wo es nichts gibt und die kein Licht machen können, diese Hände, die zu schwerfällig sind, als daß sie Licht machen könnten, und ohne jene armselige und erschrockene Helligkeit, die entsteht, wenn die Menschen zum Glück den Lichtschalter finden,

und ohne die Menschen, die dann noch lange im Bett lehnen und nicht schlafen können, auch heute noch nicht, niemals, und die des Nachts ununterbrochen das Licht brennen haben, und die so gerne schlafen möchten und es nicht können, weil ihnen das Schreien jener Menge zusammengehäufter weißer Asche die Ohren zerschmettert.

Ohne Stiege, gegen die das Schreien Sturm läuft und es den Leuten scheint, daß jemand über sie gegangen ist, jemand, der zu Hause fehlt, seit damals, als man den Zehent sammelte für die KZ, seit damals fehlt mancher, der schon lange nicht mehr über diese Stufen gegangen ist und deshalb vergessen hat, wo sie eine Biegung machen, und so immer gegen die Mauer stieß, und das die ganze Nacht hindurch und auf allen Stiegen der Stadt, und dabei lassen die Menschen ihre Hände auf den Lichtschaltern für das nächste Mal und horchen in irgendeine leere Vermutung erhitzter Gehirne, also ohne das und ohne jene langen Reihen von Frauen vor den Gräben, die wie jeden Tag auf ihre Arbeit warten, die aber diesmal keine Arbeit mehr sein wird, sondern nur noch eine letzte Verrichtung, die dem Menschen zu allerletzt bleibt und mit jenem Schrei hinter dem Hals endet, dem Schrei, der sich von hinten auf den Menschen setzt, aaah, so heiß setzt sich jenes Schreien auf den Menschen, und es war einem schon lange nicht mehr so warm, wie es einem jetzt in diesem Schrei warm ist, und dieser Schrei ist eine Kugel, so eine gewöhnliche Bleikugel für den weißen, weichen Frauenhals, heiß wie ein Wollschal, eine von jenen, und ohne Lohn dafür und ohne Hinausposaunen der Wahrheit in den verbrannten Herzen, hochgepriesen von der Ravensbrücker Erde, eingebettet in eine Prise Ravensbrücker Tod, verhaftet mit der Schwere des Balkens, den sie in ihrem Leib bald dahin, bald dorthin tragen, Tag für Tag tragen sie ihn hierhin und dorthin, hierhin und dorthin, hierhin und dorthin mit dem eigenen Körper und sie können ihn nicht ablegen, diesen schweren Balken im Leib, ohne all das,

nein, ohne all das kehren die Toten aus Ravensbrück niemals zurück.

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