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UNZERSTÖRBARE WELT

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Ich gehe den Corso Garibaldi hinunter zum etruskischen Tor. So mächtig ist es: nicht nur die Menschen, die Erde selber wird von diesem Torgemäuer festgehalten. Das Tor mit den Mauern an der Seite und den Bögen in den Mauern ist imstande, das Härteste zu zerdrücken. Das Tor ist nur der Rest einer Mauer, die einst um die ganze etruskische Stadt herumging. Es war, als ob zum erstenmal hier die Erde zum Bleiben, zum Dasein gezwungen worden sei. Das Dasein wurde hier zum ersten Mal festgemauert.

Die Kirche S. Angelo oben: sie ist ein runder Bau, aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, nicht hoch, so, als hätte er sich eben aus der Erde herausgeschoben, sich aus ihr heraufgedrückt, es ist wie die Geburt der Erde nach oben. Das Portal der Kirche ist nicht bloß eine Öffnung, es ist ein Einbruch in die Mauer: in das ganz und gar andere des Überirdischen kann man nicht durch eine Öffnung schlüpfen, nur durch einen Stoß hineinbrechen. — Ich sah noch keine Kirche, die so sehr nur für Gott gebaut ist wie diese, hinaufgebaut zu ihm, sie ist primär ein Gotteshaus, ein Haus Gottes für ihn, der Mensch ist hier wie etwas, das nicht in diesen Bau hineindarf, da Gott in ihm noch allein ist.

Oben auf der Piazza Rossi Scotti: hügeliges Land liegt vor mir unten, überall. Das Hügelige ist hier mächtig, die Erde ist nur als Hügel da, die Urstätte aller Hügel der Erde ist hier, als würden sie hier für die ganze Erde erzeugt. Ich gehe weiter aufs Feld; die Stadt, Perugia, hegt getrennt von den anderen Hügeln, allein. Von unten drängt schon die Erde nach oben, als wolle sie sich allmählich über die Stadt hinaus bewegen, sie bedecken, eine neue Stadt entsteht über der alten und wieder wird Erde nachdrängen: werden hier wie einst in Troja sieben Schichten von Städten übereinander liegen?

Vor dem Palazzo Comunale —, nein, keine neue Schicht einer Stadt wird es wagen, sich über diesen Bau zu legen. Wie ein zyklopischer Klotz, in die Stadt von oben hineingeworfen, steht der Bau da. Viele Häuser, in der Nähe, fliehen vor dem fallenden Klotz. Hier gibt es keine Geschichte mehr, es ist gleichgültig, daß der Bau von Giacomo di Servadio und von Giovanello di Benvenuto im Jahre 1293 begonnen und 1443 vollendet wurde. Sein Dasein hat alle Geschichte aufgesogen. — Gegenwärtig da, wie der Palazzo selber, ist auch der Greif an ihm und der Löwe. Nichts ist an der Wand als sie, alles andere ist von ihrem Dasein weggedrückt.

Der Brunnen vor dein Palazzo hat drei Becken übereinander, das Wasser fließt von einem Becken zum anderen herab, mit dem sanften Geräusch des immer an die gleiche Stelle fallenden Wassers. Dieser Brunnen ist wie der Palast ein Zeichen der Dauer: das Geräusch des Brunnens ist so fest in der Luft darin, daß aus ihm das Wasser herabfallen würde, selbst wenn die Quelle in der Ferne aufhören würde zu fließen.

Der Platz, auf dem der Brunnen steht, ist wie unabhängig von den Gebäuden, die um ihn herum sind. Ein Platz ist ein ursprüngliches Phänomen wie ein Brunnen, die Straße, das Haus. Dieser Platz ist so autonom, daß es scheint, als hätten ihn nicht die Bauten ‘ringsherum geformt, sondern, Baüten’dü sichfieranbefohlen. Man spürt, man ztf ihni - fen Sieh bewegt. Ganz anders sind die Anlagen, die Plätze, in den Städten heute, sie sind Einschiebsel, wie von irgendwoher abgeladen, die der Mensch vergrößern, nein, auseinanderschieben kann, wenn es ihm paßt, und wieder zusammenklappen. Und er selber, der Mensch, geht wie nebenbei darüber oder wie über etwas, in das er sich verirrt hat.

Es ist Markt, den ganzen Corso Vanucci entlang bis zum Dom, und die Straßen hinunter bis zur Piazza Garibaldi sind Städte mit Waren, die Plätze beim Dom sind jetzt Lager von Geschirr und Werkzeug. Ein Geräusch von Worten ist dauernd über den Menschen, das Geräusch ist wie etwas Selbständiges. Die Menschen, die zwischen den Ständen stehen und gehen, sind gar nicht wie zu den Ständen gekommen, es ist, als hätten sie von allem Anfang an zu den Ständen gehört, ausgepackt wie die Waren, mit ihnen. Trotzdem —, unmittelbar begegnet hier auf dem Markt der Mensch den Dingen: eine Aluminiumpfanne, am Markt gekauft, ist wie ein Werkzeug, das sich Robinson auf der einsamen Insel verfertigt.

In der Galleria Nazionale dell’ Umbria: Sienesische Maler des 14. Jahrhunderts, die Goldgrundbilder —, ist das nicht mehr als bloß gemalt? So ist es, wenn die Heiligen sich der Welt zeigen. — Die Heiligen kamen aus dem Goldgrund hervor, ein Teil der unsichtbaren Welt, hier am Goldgrund wurden sie sichtbar. — Die Umrisse der Figuren sind Striche über dem Gold, Zauberstriche, durch die die Heiligen erschienen. — Es scheint, daß der Goldgrund heute nicht mehr der Hintergrund ist, vor dem die Heiligen erschienen, sondern eher die Wand, hinter der sie verschwinden.

Zuerst, wenn man vor solch ein Bild kommt, ist alles Wort wie weggesogen aus einem, ins Bild Man ist allein, ohne das Wort, allein mit dem eigenen Schweigen, vor dem Schweigen des Bildes. Aber aus der Fülle des Schweigens vor dem Bild bekommt man das Wort wieder, wie zum erstenmal. Durch das Bild kann nicht nur das Wort, sondern der ganze Mensch wieder erneuert werden. Man könnte versuchen, bestimmte Krankheiten des Menschen zu heilen vom Bilde her.

Vom Bild überhaupt: die Dinge, die außerhalb des Bildes materienhaft herumliegen, werden durch das Bild aufgelockert,

sie werden schwebend, durchsichtig gemacht. Die materienhaften Dinge werden im Bilde verwandelt und der Seele adäquat. Die Bilder tun der Seele wohl, denn die Seele lebt selbst in Bildern und von den Bildern, die Bilder, die ihr zugeführt werden, sind eine Nahrung für sie. Wilhelm Hausenstein sagt in der Schrift „Was bedeutet die moderne Kunst?”, daß die moderne Kunst den Menschen traurig mache. Das ist richtig: in der modernen Kunst gibt es kaum mehr Bilder, es gibt nur Kombinationen von Teilen der Dinge, die Seele wird betrogen durch diese Pseudo- Bilder, darum ist sie traurig.

In deT Frühe auf der Terrasse vor dem Hotel Brufani: kleine Hügel kommen aus dem Nebel heraus und tauchen wieder unter, wie Fische einen Augenblick über der Fläche eines Sees.

Auf dem Corso Vanucci: die Gesichter der Frauen auf der Straße sind wie die Gesichter auf den Bildern der frühen siene- sischen Maler. Eine junge Frau geht langsam von einem Marktstand zum anderen, ihr Gesicht ist oval, wie die Bahn, die das Gestirn am Gewölbe des Himmels macht, ihr Auge schaute der Weite der Bahn nach. Plötzlich bückte sie sich herab —, dieses rasche Bücken war so, als ob ein Vogel plötzlich herabgestürzt sei vom Gewölbe des Himmels auf den Boden der Erde.

Jetzt bin ich auf dem Geschirrmarkt beim Palazzo Comunale, die farbigen grünen und blauen Töpfe liegen auf dem Boden da wie Früchte des Bodens. Die Erde ist in den irdenen Krügen, sie ist auch in ihrer Rundlichkeit, es ist wie Erde, die so wuchs, Erde, die noch einmal sich hier rund machte. Es ist schön, wie solch ein Krug festhält, wie’s innen ist, und zugleich davon hergibt, Halten und Geben ist eines; sicher ist das Halten in diesen Krügen und sicher das Geben.

Bettler sitzen überall herum, Krüppel, Mißgestaltete sind es, die betteln. Es kann in einer Welt, die gebrochen ist seit dem Sündenfall, nicht nur Gesunde und Glückliche geben. Der Tod ist aus jenem Bruch herausgesprungen zu den Menschen hin und mit ihm das Leid und die Krankheit. Der Krüppel, der Anormale, ist das Zickzack des Bruches in der Gestalt des Menschen. Die Welt würde auseinanderreißen, wenn der Sprung nicht den Raum hätte, sich in die Gestalt des Menschen hinein zu verbreiten.

Es ist zehn Uhr vormittags, ich bin wieder auf der Terrasse beim Hotel Brufani. Die Hügel in der Ebene liegen jetzt deutlich da, der Nebel ist verschwunden, die Hügel liegen nebeneinander wie Tiere, die eine Last gebracht und abgeladen haben.

Ich fahre mit der Bahn nach Ponte S. Giovanni, und gehe von dort zu Fuß nach dem Etruskergrab der Volumnier. Es hat die Form eines römischen Hauses. Man wird nicht traurig, eher heiter in dem Grabhaus. Es ist, als sei der Tod nur das untere Stockwerk des Lebens.

Ich gehe zu Fuß zurück nach Perugia. Perugia ist in der unteren Stadt mit Bauten der modernen Architektur besetzt, n; stem: okkupiert. Difeįi’nėudi Batrtfeiif häb’eh’fh Ihrer Aufdring- .n liohkeit,-ihrer Nacktheit etwas Obszönes.

Gegen Foiigno zu, in der Ferne, wo am Horizont der Himmel herunterkommt, wird die Erde weit, der Himmel scheint am Horizont sich gegen die Erde hin zu wenden, um sich auf ihr auszubreiten, die Fläche der Erde macht sich weit für ihn.

In dem Cafe neben dem Palazzo Comunale: an der Wand hinten saß an einem Tischchen „der Diplomat”, wie der Bürger am Ende des 19. Jahrhunderts ihn sich vorstellte, er war wie noch nachträglich produziert von dieser Vorstellung, nichts fehlte, auch nicht das Monokel. Er kam sich von allüberallher ‘angeschaut vor, und er nickte plötzlich mit dem Kopf gegen ein Tischchen neben ihm, grüßend, und gegen eines bei der Türe, an denen niemand saß. Seine Augen waren unheimlich: wie durchsichtiges Fleisch.

Wieder in der Bildergalerie, vor einem Bild von Piero della Francesca, Madonna und Heilige: die Dinge auf dem Bilde, die Gestalten, ihre Gesichter, die Bäume und Felsen sind deutlich da, aber es ist, als ob vor einem die Gesichter langsam sich noch mehr entfalteten und als ob uns von jener Zeit gezeigt würde, in der alles langsame Werden geschieht, das Aufstehen eines Halmes aus einem Samenkorn, das Sichöffnen einer Blume, das Sich- sammeln der aufsteigenden Feuchtigkeit zu einer Regenwolke. Das ist die Zeit, die der Dauer und der Ewigkeit nahe ist.

Ich betrachte wieder die Gesichter der Menschen auf der Straße. Sie sind auch hier vordergründig, es ist keine falsche Tiefe da, es ist nicht da im Innern, das sich nicht auf ein Äußeres bezöge, jeder Affekt hat das Objekt, zu dem er gehört, er ist nicht in sich selbst, sondern nach vorne zum andern hin gebunden, hier ist nichts zu psychoanalysieren. Das Zusammensein mit dem Menschen des Unterbewußtseins macht einen nicht zufrieden, ein solcher Mensch ist nie ganz bei einem und auch nie ganz bei sich selber, der Italiener ist immer bei dem anderen ganz, und ganz auch bei sich.

Es fragen manche, was Venedig, Florenz, Perugia usw. noch bedeuten in einer Welt, die jeden Augenblick von der Atombombe vernichtet werden kann. Aber: das Potential der Vernichtung ist heute so groß, daß diese Städte, und noch mehr dazu, virtuell schon vernichtet sind, sie sind nur noch wie übrig geblieben von der Vernichtung —, und doch sind sie da, ja sie sind da, und die Vernichtung hat bloß den Aspekt des Vorüberstreifenden, das sich vergebens anstrengt, durch die Furchtbarkeit daseinshaft zu werden. Venedig, Florenz, Perugia hingegen werden immer deutlicher, immer bildhafter, immer mehr Bild werden diese Städte, es ist, als wollten sie sich durch die Deutlichkeit einprägen in die Luft, sich festhalten an sich selber, am eigenen Bild.

Weil Gott die Welt nach seinem Wesen als Bild erschaffen hat, ist in jedem Bild eine Spur des göttlichen Wesens. Durch diese Spur ist alles Bildhafte ausgezeichnet vor dem Unbildhaften, und die Spur göttlichen Wesens bewirkt, daß das Bildhafte gegen den Untergang rebelliert: es wehrt sich durch die Deutlichkeit gegen den Untergang, es macht sich heute überdeutlich, damit es gesehen wird, die göttliche Spur im Bild mahnt den Menschen.

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