6545994-1947_15_13.jpg
Digital In Arbeit

Vom unbekannten Amerika

Werbung
Werbung
Werbung

Amerika, dieses Pionierland, das noch immer nicht Zeit genug gefunden hat, sich selbst ganz zu entdecken und zu beschäftigt war zu schürfen, zu bauen, zu schaffen, von historischem Erbe wenig angefochten zu leben und kühne Träume beim Erwachen zu verwirklichen, hat sich eigentlich nie recht damit befaßt, Fremde auf seine Wesenheit hinzuweise.

Vom unbekannten Amerika weiß auch der Gebürtige oft nur recht wenig. Wer in dem gewaltigen Rhythmus New Yorks lebt — ein Reich ohne Wälder, aber ein Reich immerhin, sein eigenes Gesetz wirkend, nach ihm lebend und ihm leidenschaftlich zugetan —, hat kaum eine Vorstellung von dem noch meilenweit unberührten pazifischen Nordwesten, den gewaltigen Ebenen des Mittelwestens, der brennenden Dürre Arizonas. Dem einsilbigen Fischer von Maine, dem nordöstlichsten Staate, ist der Süden seines Landes nicht selten ein Buch mit den sieben Siegeln des Bürgerkrieges. Vielen bleibt der Reichtum ihres Gemeinbesitzes unerschlossen, das Ungewohnte, von tagelangen Winden Überflügelte, das Unbekümmerte in der Natur, die Beschwingtheit eines betreuten Kirschbaumes im steinernen Meer der Großstadt, der verschwenderische Frühling im Death Valley, der silberne Sommer an endlosen Küsten, der farbenbrennende Herbst Neu-Englands, der verzauberte Winter der großen Wälder und Gebirge. Von diesem unbekannten Amerika soll hier ein wenig die Rede sein, ohne Bedacht auf Dramatik und den Sekundenzeiger der Weltgeschichte, von der herben Schönheit einiger Landschaften und dem geprägten Wandelantlitz ihrer Bewohfler und deren Stätten.

Wer etwa hat von Seattle im nördwestlichsten Staate Amerikas je mehr als den Namen nennen hören? Wer erfahren, wie einem zumute ist, wenn man sich dem Hafen auf einer Fähre des Puget Sound nähert? Aus dem Meere scheint sich ein dem Mont Blanc an Höhe, dem Fajijama an Gestalt ähnlicher Berg, der Mount Rainier, in der Kette des kaskadischen Gebirges zu erheben, manchmal am Fuße von den Nebeln der Niederungen verborgen, so daß sein Gipfel wie eine, nach unten verfließende Wolke erscheint. Alle paar hundert Meilen stehen solche herrlich-greise Häupter in den Himmel, die ganze pazifische Küste bis nach Kalifornien hinab. Der Hafen Seattle selbst pulst vom harten Leben der Arbeit, des Verladens, der Fischerboote, der Fähren, der Ozeandampfer, des Handels. Das zweckhafte Gffüge täglichen Tuns bestimmt Linie und Gestalt. Was eine der schönsten Hafenanlagen der Welt sein könnte, hat nichts als Piers, Geleise, Schuppen, Werkstätten, eilig errichtete Häuser, ungeschminkt und roh-farben, eine Ansammlung von Stahl, Beton und Holz, die das Wasser entlang den Zweck über alles setzt. Schönheit der Bauten und Behaglichkeit, im erstaunlichen Gegensatz zu dieser unaufhörlichen Bewegung, sind den Vorstädten, den Garten- und Villen-sicillungen vorbehalten. Einige Meilen weiter nach Osten liegt der an Größe und Schönheit dem Wörthersee vergleichbare Lake Washington, wo Stille, Planung der Anlage, der freie Geschmack reichgewordener Siedler vorherrscht.

Anmaßung und der berühmte Mayflower Komplex sind hier unbekannt. Der Vorurteile sind wenige. Die Freiheit der Rede, des gesellschaftlichen Verkehrs, der Unterhaltung sind erfrischend. Das Denken ist zweckgebundener, unspekulativ, kurzfristig, es sei denn, daß es sich um wirtschaftliche Planung handelt. Arbeit wird häufig noch als ein großer, im Vielfachen zurückzugewinnender Einsatz angesehen. Die Gesellschaft ist in beständigem Wandel und im, schnellen Flusse der Tätigkeit und Entwicklung bleiben die kleinlichen Probleme nicht haften.

Glück wird als erreichbar angesehen, Religion als die Ordnung des Unbekannten, das Unbekannte als die verhüllte Fortsetzung des Wahrnehmbaren. Der Blick ist dem Westen, Asien, zugewandt, und so rauscht Europa nur sanft in der Ferne. Hier findet man, wie überall in Amerika, die schöne Gewohnheit, vom unbekannten Menschen das Beste vorauszusetzen und von ihm Erfüllung zu erwarten, im Gegensatz zu Europa, wo der Fremde, falls ihm daran liegt, sich der Gesellschaft einzugliedern, mit Unbehagen erweckendem Mißtrauen betrachtet wird.

Wohin immer auch des Wanderers Auge fallen mag, er wird von dem Atem und Pulsschlag det tausend Landschaften so tief berührt sein, daß er ihre Namen wie Wein auf der Zunge verkostet. Im südlichen San

Francisco, wo die Häuser über steile Hügel fluten und die alten Glocken spanischer Missionen gelassen verklingen, erfüllt ihn eine so beschwingte Heiterkeit, daß auch der allnachmittäglich einfallende Nebel sie ihm “nicht zu zerstören vermag. Hier begegnen einander das anglische und Lateinweht Element, der Orient, begegnet einem der mit festen Füßen im lockeren Netz der Straßen stehende Städter des Goldenen Westens, schlägt einem der Ruch von Fisch und Tang, Teer und Tee, Orangen und Meeresfrische und von regengestörtem Staub entgegen. In ^Arizona, wo die Nerven der Menschen in der Hitze zu brausen beginnen, ruht die gleißende Todesschönheit der Wüste, der unter dem Meeresspiegel liegende, von keinem Vogel umschwärmte, von keinem Gebüsch verborgene Salzsee, erbarmungslos strahlend und ewig dürstend. Im nördlichen sich von Montana nach Kanada erstreckenden Gfacierpark, der die Gesdiäfte des Tages, die Werbung für die einfältige Notwendigkeit an seiner Schwelle verbannt, stehen die alten Götter, die sich mit der Phantasie der Indianer in die hochgefalteten Berge gemeißelt haben. In El Paso staunt der Reisende, mit dem schmalen Rio Grande die Grenze zu Mexiko gezogen zu sehen, wo die Luft merkwürdig dünn und der dürftige Boden brüchig und vom Gestein durchsetzt ist. In New Orleans fühlt er den Wechsel der Geschichte mit nachhallenden französischen Worten im Vieux Carre, zieht mit den Schleppern am gelben Mississippi, den gemessenen Schrittes Lasten tragenden Negern, staunt über die antiquierten Bahnhöfe, die stillen Kirchen, die sommerlihe Kammermusik in den Lauben des alten Rathauses, wo der Louisiana Kaufvertrag 1803 unterschrieben wurde, über die Sümpfe mit Kranichen und Reihern, Rohrzudterpflan-zungen, Sykomoren, Magnolien, Platanen, das hängende Riesenmoos, die Gräber mit den Toten in steinernen Schreinen da das Wasser ein paar Fuß tiefer haust. In Vir-ginien begegnen ihm englische Kolonialgeschichte, der lässige Stolz, die gelassene Bewegung alter Geschlechter, ein um Zeit unbekümmertes, ein zuweilen anachronistisches Patriziertum, dessen langsam dahin-ebbende Wohlhabenheit auf ein patriarchalisches Agrarwesen zurückzuführen ist und das für den industriellen Norden nicht viel übrig hat. Er folgt den Spuren der Unabhängigkeitsbewegung, hört die dunkelrhythmischen Gesänge der Neger, sieht ihr lebhaftes Gebärdenspiel, fühlt die Fassungslosigkeit ihres Lachens, ist erstaunt, wieviel Humor, Musik, Gesprächigkeit und Gesten die Weißen von ihnen für eine nicht immer fraglose Zivilisation eingetauscht haben, ist seltsam berührt von dei Leichtigkeit, mit der man den engeren Heimatboden um des Erfolges willen verläßt; ist an Europa gemahnt, wenn man durch die sich gemächlich ausbreitende, von Hochhäusern freie, architektonisch an der Antike geschulte Hauptstadt geht und fühlt sich durch das beständige Wechselspiel von 19. und 20. Jahrhundert, durch die Einheit der Vielfalt und die Fülle der Erscheinungen, die ihrem Werte, nicht ihrer Idee nach ernst genommen werden wollen, in einem Kontinent, der eine andere Welt bedeutet.

Wer daran denkt, wie wenige Jahrhunderte weißer Geschidite dieses Land umspannt, wird den Mangel an Tradition verstehen. Die einzige Tradition, die jeder für seih Wesenselement ansieht, ist Freiheit. Die „Freiheit von“ zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges wurde späterhin zur „Freiheit für“. So ängstlich hütet der Amerikaner diese nicht ganz einfache Freiheit, daß er, der auch als Soldat Zivilist bleibt, gegen jedwede Art der Reglementierung, von Regierungsverfügungen bis zum Meldezwang, sich sträubt. Diese Freiheit gestattet ihm — um eine Bemerkung Goethes über Lessing zu verwenden —, sich ungezwungen zu geben und die persönliche Würde wegzuwerfen, „weil er sich zutraut, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können“. Im grünen Lande Vermont, wo die Lüfte in frohen und innigen Farben schwingen, wo noch die Farmhäuser der Pilgerväter stehen, mag man leidit einen Harvard-Professor in Kordhosen, Stiefeln und einer leichten Joppe für einen Farmer halten, der prüfend durch die Felder schreitet oder mit Hammer und Säge sich in seinem Gehöft zu schaffen macht.

Aber in all dieser Schönheit wird, wer sich nicht einem flüchtigen Eindruck, der Romantik oder der Phantasielosigkeit hingibt, auch das harte, unerbittliche, offene Leben erblicken. Er wird denken, daß manche Eile und mancher Reichtum den Menschen ins Fieber bringt, ihm wird sich die Frage nach dem Sinn des Daseins an die Lippe legen, er wird sich*in dem politischen System nicht leicht zurechtfinden, er wird erkennen, daß Gewerkschaften auf Gewinn und Mehrung bedachte Uhter-nehmen sind, die sich um das, was Europa als politisches Programm anzusehen gewohnt ist, im allgemeinen nur wenig bekümmern. Ihn werden die oft häßlichen Arbeiterviertel unruhig machen.

Gewiß wird er die Gestalten John Steinbecks und Thomas Wolfes sehen, die Nachkommen vieler Völker und Rassen, die eine elegische Betrachtung dieser Welt kaum ihren Grabsteinen gestatten. Er wird in Bibliotheken Mensdien begegnen, die irdische Güter im Vergleich zu Erkenntniswerten gering achten, Studenten, denen alle materiellen Gaben eine Symphonie nicht aufwiegen, ausgesparten Stillen in den brausenden Orgeln der Straßen Chicagos, freundlicher Innigkeit an den Seen Newhampshires, englischer Zurückhaltung in Boston, ernster Beschwingtheit in den Hügeln New Yorks, kühler Gelassenheit in den Wäldern Maines, einer unendlichen Himmelsglocke in den Ebenen der Dakotas, Einsamkeit an der Küste Oregons; Bohrtürmen, Bergwerken, Kränen, Fabriken und Werften; Rodeos, Viehmärkten, seltsamen Trachten und Gebräuchen; einem unbändigen Willen und Glauben an sich selbst. Sie werden ihn auf viele Jahre zum Lernenden und Prüfenden machen, ehe er sich fähig fühlt, ein gerechtes und umfassendes Urteil zu fällen. Dann wird ihm auch das amerikanische Lebensgefühl begreiflich werden, die amerikanische Freiheit, die — so paradox dies auch klingen mag — oft mit menschlicher Schwäche bezahlt werden muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung