6603569-1954_03_05.jpg
Digital In Arbeit

Die Landschaft Osterreichs

Werbung
Werbung
Werbung

Wer als Kind in einer Wiener Schule Landkarten gezeichnet, wird sich des Glücks entsinnen, das die Gestalten der Kronländer beim Anschauen und Nachziehen ihrer Konturen ihm bereitet. Niemals wird er die Grenzfiguren des heutigen Tirol und der Steiermark anders als mit dem schmerzlichen Empfinden einer Verstümmelung wahrnehmen können. Wie schön senkte sich Tirol nach dem Süden, zu beiden Seiten der Etsch folgend, bis an den Gardasee und die italienischen Alpen hin; Vorarlberg, noch nicht davon getrennt, bildete mit an der reinen Gestalt, welche das horizontale Kärnten mit dem nach Westen offenen, einem Ohr gleichenden Bogen der Steiermark verband. Im Norden, über dem Leuchter Salzburg, bauten sich in freundlichen Linien die beiden österreichischen Länder auf. Wie liebten wir die weite Wölbung des Innviertels, wie die scharfe Südspitze des Semmerings! Wohl klangen fast alle Namen der Städte, Flüsse und Berge, und in den Gesprächen der Knaben bedeutete es keinen geringen Ehrgeiz, dieses oder jenes Land schon betreten, gar erst einen der hohen Berge selbst bestiegen zu haben. Die Glücklichen, welche im Sommer der Ferien sogar nach Tirol gekommen waren, wurden nicht wenig bewundert: den Armen aber genügte es, den Wienerwald zu durchstreifen. Ja, selbst die Gärten der Stadt hatten etwas Ländliches an sich, der Prater vollends war ein Wald, unendlich, gpfahren- reich, von fremden Tieren und Vögeln bewohnt, überraschend mit fremden Blumen des Wassergebietes. Die Kinder, die ihren Sommer in den Gärten Wiens verbringen mußten, wie erschütterte sie eine erste Reise in die Alpen!

Vom Zählen der Stationennamen her lernten wir das Land besser kennen als in der Geographiestunde, und wie sollte je ein anschauungsarmer Unterricht die glückliche Bestürzung vorbereiten können, die den Knaben packte, als zum erstenmal der Zug ihn das Tal der Enns entlang führte. Die ungeheuren, fast senkrechten Wände des Gesäuses, von Tannen bestanden, von Wasserfällen hallend, auf Gipfeln und in sonnengemiedenen Schründen den Schnee weisend mitten im hohen Sommer, das Finstere der Luft, wo die Bergwände näher aneinander traten, der kalte Hauch, der dann und wann durch das offene Fenster einwehte mit dem Rauch der Lokomotive, der Anblick der Bergblumen an den Wiesenhängen, wo Herden Viehs weideten, wie es in den Büchern oft gelesen worden war, das Riesenhafte mancher Berggestalt, das in Wolken Schwebende anderer, fernerer Hochhäupter, Alpenbäche, über die hölzerne Brücken führten, das Rauschen des grünweißen Gischtes, über Stegen, auf Wegen, auf Felderstücken Menschen in einer anderen Tracht —: alles dies wirkend voll so herrlicher, herzbedrängender Wucht und Macht, daß es dicht zuviel genannt werden darf, wenn darauf mit Tränen geantwortet wurde. Beglückender mag der Süden am Meer sein: eine Hochwiese in Oesterreich, feucht von Tau, durchsummt von Insekten, in der Runde Berge, Brausen von Wasserfällen, von vielen freundlichen Wolken durchflogener Blauhimmel, Bauernhäuser in der Tiefe, auf deren Holzdächern noch beschwerende Steine liegen, Heuschober da und dort, von denen es süß herriecht; das ist Land und nirgends wieder so ganz und so rein und so treu zu erleben gewesen wie einzig hier.

Schön ist Oesterreich — das ganze Land schön! Rudolf von Alt hat es gemalt: aus seinen Bildern könnte man das alte Reich wieder zusammensetzen. Vom Belvedere aus der Blick auf den Stephansturm mit den melodischen Hügelzügen des Kahlengebirges im Hintergrund: schon der Italiener Canaletto hatte Wien so gesehen. Schön auch ist der Blick vom Heldenplatz auf die Gebäudedes Parlaments, des Rathauses und der Votivkirche mit den Bergen rückwärts oder der nach Westen gerichtete mit der goldenen Kuppel des Steinhofs oder der von einer der Anhöhen aus die ganze Stadt mit dem vielfach überbrückten Strom in ihrem Rauchdunst glänzend ausgebreitet wahrnimmt, bis weit in die Berge Ungarns hinein! Sanft ist der Reiz des Buchenwaldes, ihm gesellt sich der Geist der Weingärten, das Element des Stromes musikalisch überführend in das des milden Wäldergrüns. Von den Alpen weg freilich deutet der Wein: Donauhügel und Südebenen verziert er. Aber der Wienerwald wendet sich allmählich auch vom Strom ab. Bald wagt es die Landschaft in dem Tal der Brühl, sich mit Felsen zu zieren, aus denen die sonst ungewohnten Föhren steigen, befremdend fast inmitten der lichtgrünen Buchenwaldungen. Doch schon ist weiter südlich die Harmonie des seligen Tales erreicht, das von der Stadt Baden in drei Stunden nach dem Stift Heiligenkreuz führt. Jeder neu in die Schau eintretende Berg erzählt eine neue Schönheit, und wie ist plötzlich, etwa auf dem Weg zum Jägerhaus, die Welt der Sage ahnbar geworden. Parallel zu der langen Pappelreihe im Osten beginnen jetzt die hohen Berge aus rötlichem Backstein, welche Wasser aus dem Gebirge leiten, dahinzuziehen, heroischen, ja römischen Geist in die einfache, südlich-deutsche Landschaft tragend. Aber bald steigt aus dem Steinfeld ein Bergland auf, das die Bahn in Serpentinen wunderbar befährt, so daß von allen Seiten der Semmering betrachtet werden kann, und von seiner Höhe aus gesehen, gelassen und erhaben, ragen die langen Felsrücken des Schneebergs und der Rax, die grauen Flanken zerschründet von versiegten Wasserläufen, oft in weißbläulichem, gläsernem Luftschein, aus dem lichtgrünen Tiefland.

Ehe Wien die Hauptstadt war, haben westlichere Orte an der Donau die Fürsten beherbergt. Klosterneuburg hebt seine Türme und seine grüne Herzogskrone mit dem alten Stolz über den Strom, und größerer, älterer Geist ist in Pöchlarn und Melk noch heimisch. Etwas Feierliches hat die Fahrt die Donau aufwärts, von vielen Stiften und Klöstern ist das Land gesegnet. Die Blüte des Weins und Obstes belebt es mit der Gegenwart schönster Frühlinge, aber uralt Sagenhaftes waltet fort an den Ufern, in Ruinen, Gehöften, in den weiten Auen, einsamen Tälern, im Leben der Bauern, Winzer und Schiffer. Die Wachau ist nicht nur der Weg der Nibelungen, sie ist das unerloschene Erbe des babenbergischen, germanischen Oesterreichs: aber es strahlt von den Klöstern ein mildes und geistliches Licht mit ein. Auch die Alpentäler werden so geistlich durchstrahlt; Mariazell bittet die Gläubigen von weither zu sich. Hier scheidet die Enns zwei Bezirke des Alpenreiches streng voneinander. Die Einwirkung Wiens endet, und es beginnt das Gebirge selbst, seine Natur und seine Menschen zu bilden.

Die Landschaft Oesterreichs: sie ist so reich und so unterschieden, so verschlossen und so herb, daß nichts schwerer sein kann als ihr zusammenfassendes Lob. Denn wenn wir die höchsten Berge feiern, begehen wir da nicht etwa ein Unrecht an den lieblichen Hügeln, und wenn uns der Fall der kalten, duftenden Alpenströme begeistert, setzen wir nicht hintan den stillen Lauf der Flüsse, welche durch die Ebene gehen? Wir lieben Salzburg und Bozen, es entzückt uns das Kirchlein von Heiligenblut oder die von offenen Bogen durchbrochene Mauer von St. Wolfgang, von der man so festlich auf den See hinausblickt. Aber wieviel Unrecht geschieht nicht einer Stadt, deren barocke, unscheinbare Schönheit nur wenigen sichtbar wird, wie etwa Linz, darin man abends an der Donau hingehen muß, um es zu fühlen, oder St. Pölten, über das viele lächeln, die nicht wissen, wie zerstreut dort das Schöne in allen Gassen wohnt und bis zu welchem Grad der Erhabenheit die einfache, umliegende Bauern- landschäft gelangen kann. Näher und höher als in der berühmten Wachau treten die Berge zwischen Aschach und Engelhartszell an die Ufer der Donau, und die Orte, deren Häuser hier nahe am Wasser stehen, ergreifen nicht minder als die an der Traun, an der Mur und ah der Eisack. Die Grenzen, die zwischen den Ländern gehen, machen die Gebirge nicht wahr und auch die Flüsse nicht immer, und so dürfen wir schon von einer Heimat sprethen, deren Gemeinsames wir für alle Zeiten beisammen und erhalten wünschen. Dies zu erreichen, bedarf es nur einer einzigen Kraft: nämlich der Liebe, und wo denn sonst macht ein Land seinen Menschen die Liebe zu ihm so leicht, wie dieses unsrige, das die Schönheit der Hauptstadt besitzt und die Schönheit der Alpen, die Schönheit eines großen Stromes und vieler Bergseen, die Schönheit der Wein- und Waldhügel und die Schönheit der Ebene, ja der Niederung? Es fehlt allerdings die mächtigste Schönheit, die des Meeres, und weil wir ein Binnenland geworden sind, därüm müssen wir uns hüten, uns zu verengen. Das ist vielleicht der Sinn der großen Stadt an der Grenze, daß sie die Weite des Geistes und des Herzens mitteilt, lehrt und beispielgebend vorlebt, was nur möglich ist, wenn enge Begriffe und Meinungen fallen, und wenn Gefühl und Bewußtsein der Gemeinschaft mit der Dankbarkeit für das Land, seinen Bestand und das Glück, ihm anzugehören, lebendig verbunden bleiben.

Die Zusammengehörigkeit des Ganzen, die Zugehörigkeit Wiens zu den Ländern und ebenso der Lander zü Wien äus dem Wesen der Landschaft abzuleiten, war einer der Zwecke dieser Zeilen. Wer Wien kennt, weiß, daß es durchaus keine Einheit ist, daß seine feezirke ein selbständiges Leben bis ah die Eigenart des Dialekts führen, ja, daß beinahe Landschaftsgrenzlinien gezogen werden können wie in keiner anderen Stadt. Dort, Wo die Weingarten an die Donau heraritreten, ist das Landschaftsbild ein verschiedenes von den Donaugegenden der Niederung, geradezu der Meridian, der West von Ost scheidet, scheint hier durchzugehen, und ebenso anders sind die Garten der westlichen Vororte als die der nördlichen zwischen Hügeln und Strom. Wien gehört sowohl den Alpen als auch der Ebene zu, der Donau und den Höhen ihres änderen Ufers, wie es ja für die Stadt bezeichnend ist, daß der Bisamberg, welcher am jenseitigen Ufer den Zug der Alpenausläufer fortzusetzen scheint, nicht zu diesem Gebirge mehr gerechnet wird, sondern bereits wie ein zu weit vorangeeilter Herold die Berge des nördlichen Viertels ahkündet. Die Hauptstadt, in sich auch gleichsam in Provinzen zerfallend, ist ein Abbild des ganzen Landes, von dem nur Unkundige oder Uebelwillige sie abzutrennen planen können. Dennoch genügt es nicht, bloß Wien zu kennen, um zu wissen, was das österreichische Land ist. Unvermischt oder doch reiner erhalten haben sich die Länder; ihre Berge und ihre Flüsse haben strenger das Fremde abgehalten, und es scheint, als ob dieser Geist des Bewahrens und Hütens dort zu dauern vermöchte. Heute noch lebt in den Landstädten das vorvergangene Jahrhundert, in den Märkten hoch weiter zurückliegende Zeit, in den Bauerndörfern geschichtslose Urvergangenheit. An allen Zeiten teil hat Oesterreich: es ist noch ein Land, darin die Natur selbst ihr unverstellbäres Antlitz zeigt; und wenn die Geschichte viele Gegenden nicht zu berühren vermochte: die Sage und noch älteres Wesen, das nur der Mythos kennt, wirkt hier überall an den Ufern der Donau und äüf den Gipfeln der Berge; in den tiefen Tälern und in verlorenen Weilern ist dieser geheime Ursprung fühlbar, der den Bauern und den Winzer, den Wanderer und den Künstler, den Kennenden Und den Liebenden ah das Zeitlose des Landes ansdtließt, das durch alle Menschenalter dauert und das die Geschlechter nicht verraten mögen, die dich uns dieses geliebte Land bewohnen werden.

Aus „Das musische Land“, Öesterreiehlsche Verlagsanstalt, Innsbruck,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung