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Der Garten zwischen Gletscherbergen

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So sind wir also, wenn wir der Etsch, die langsam vom Bach zum Fluß wird, talwärts folgen, die wohlabgesetzten Steilstufen gegen Osten gehen, im Herzen Tirols! Man kommt auch keinen Augenblick lang ins Zweifeln, denn rundum ist eine tirolische Landsdiaft: dunkle, ragende, massige Berge, gletschergekrönt und firnumsäumt, davor sind hellgrüne Almen und blumenbunte Wiesen, die Leute aber reden, wie sie seit eh und je geredet haben: tirolisch. Das ist der Vintschgau, dem die Venoster den Namen gaben, ein Stamm, der hier und westwärts bis in den Raum von Chur im Graubündischen siedelte. Der Wolkensteiner, den wir zitierten, hat freilich angenommen, Vennone sei der Name eines „teutschen Königs“ gewesen. Daß aus „vennos mons“, dem Venosterberg das Wort Finstermünz geworden ist,“ kann man leicht einsehen.

Die junge Etsch hat ein geruhsames Fließen durch den Vintschgau und die Straße, die sie begleitet, ist uralt: Kaiser Claudius hat sie bauen lassen, in den Jahren 46 und 47 nach Christi und ein gutes Jahrhundert, ehe die Heerstraße über den Brenner ausgebaut wurde. Diese „Via Claudia“ war damals die Hauptverbindung zwischen Rom und Bayern — sie führte über den Reschenpaß nach Landeck und durchs Inntal bis Imst, wo sie nach Augsburg abbog. Tirol war ja schon durch die Kriegszüge der beiden Stiefsöhne Augustus, Drusus und Tiberius, römisch geworden. Die hier siedelnden Volksstämime, von den Römern gemeinsam als „Räter“ bezeichnet, waren 15 vor Christi unterworfen und das Land als Provinz Rätien einverleibt worden. Maia, das heutige Meran, dem die junge Etsch zueilt, war damals schon römisdies Lager

Grün ist das Tal und gegen Mittag haben wir immer die Ortler'oerge vor Augen. Hinter Laas, wo man den blütenweißen Marmor bricht, tut sich das Martelltal' auf, das an die Flanken des Monte Cevedale heranführt. Hier steht die Burg Obermontan, wo man eine Handschrift des Nibelungenliedes gefunden hat — dieses Land war immer reich an Sängern und Dichtern. Man mag dabei an das Denkmal Walters von der Vogelweide denken, das vor der Kirche in Bozen steht oder an Oswald von Wolkenstein, d.er drüben im Kloster Neustift bei Brixen ruht.

Wenn wir die Ruine Kastelbell sehen, dann sind auch schon die Weingärten um uns, die vielstufigen, sonnentrinkenden, aus denen im Frühling das Rosenrot der Pfirsichblüte schimmert. Hoch und stolz ragt die Burg Juval auf, daneben öffnet sich das Schnalsertal mit einer wilden, gischtwasser-gefüllten Schlucht. Weit hinten, im wiesengrünen . Talgrund von Schnals stehen die höchsten Berghöfe Südtirols, ganz hoch hinauf reift hier noch das Getreide, die Gletscherkronen der ötztalergipfel sind zum Greifen nahe, jäh und steil fallen hier die Berge nach Süden ab. Der Pfarrer von Unserfrau aber, der im letzten örtel des Schnalsertales die uralte Gnadenkirche betreut, ist noch vor dem zweiten Weltkrieg über den Similaungletscher und über die Grenze hinüber nach Vent gegangen, wenn drüben geheiratet, getauft oder gestorben wurde!

Am Felsriegel der „Toll“, knapp vor Meran, ist der Vintschgau zu Ende, das grüne Tal zwischen den Gletscherbergen, mit seinen alten Burgen und seinen unabsehbaren Obsthainen, die man im Frühling erlebt haben muß, wenn das ganze Etschtal ein Traum von Apfelblüten ist, ein einziger Blütenstrauß, über dem die blaueisigen Gletscher schimmern!

Man muß aber auch den Herbst hier erlebt haben, wenn die Rosmarinäpfel reif sind, süß und duftend, zart und weiß wie die Blüten, aus denen sie wurden, wenn die stachelbewehrten Edelkastanien von den Bäumen springen, die „Käschten“, wie sie hier heißen. Wenn die reifen, saftstrotzenden Trauben von den hochgezogenen Weinreben hängen, von den Palaunen des Merancr Reb-gehügels, von den „Pergeln“, wie sie im Überetsch drüben sagen. Dann erst nehmen wir die Süße und den Reichtum dieses Tales in uns auf, dann erst wird uns klar, warum dieses Herzstück Tirols all die Liebe seiner Bewohner hat und auf ewig! Der Duft des reifen Obstes ist dann über dem Tal und der Geruch des gärenden Weines, die warme Sonne eines langen und hellen Herbstes verklärt die Landschaft, auch wenn die hohen Spitzen schon wieder Schnee auf ihren Häuptern sammeln und die Lärchenwälder braun werden. Wir haben den Haflinger Berg vor uns, mit den blondmähnigen Pferdeherden in den grünen Bergweiden und schauen das Tal hinunter bis gegen Terlan und hinüber zum runden Gehügel des Gampenjoches.

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