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Der Oast

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Wenige Minuten nachdem Albert eingetroffen war, wurde er unhöflich. „Hier ist mir zu wenig Inhalt, zu wenig Stoff — in dieser langweiligen Gegend.“

„Langweilige Gegenden gibt es nicht, nur langweilige Beschauer. Bist du müd?“ „Nein.“

„Du gehst jetzt durch den Ort und dann auf den Buchberg l“

Ich nahm meine Aktentasche und wir zogen aus.

„Bei uns wohnen .nur' Bauern, Landarbeiter, bäuerliche Handwerker und Geschäftsleute. Aber in diesem Haus und im dritten darnach wurden Schauspieler geboren, da drüben ein Schauspieldirektor und dort ein Spielleiter, der Bühnenstücke und Romane schrieb.“

„Das werden Geltenichtse gewesen sein!“

„Wirkungsbereiche der beiden Direktoren: Höritzer Passionsspiele, Pradler Theater, Tirol, Deutsches Theater in Bukarest und Brasilien, Auslandsfahrten nach Italien, Deutschland, Dänemark. — Uebrigens: in der Gasse kam ein Prälat zur Welt, und dort draußen, in den kleinen Häusern vor den Feldern, ein Missionär. Ueber ein halbes Jahrhundert wirkte er am österreichischen St.-Georgs-Kolleg in Istanbul, das letzte Jahrzehnt als Chef. Hättest du dir ein paar Sommer Orient von ihm schenken lassen?“

„Gehört nicht zum Thema!“

Wir standen vor der Kirche.

„Hier liegt Dechant Anton Hye begraben.“

Eine verirrte Kröte hüpfte durch die wilden Kamillen.

„Dechante gibt es viele“, sagte Albert, „und der eure hat es nicht einmal zu einem Grabstein gebracht.“

„Den hat bei der letzten Renovierung die Bauherrschaft leider abschlagen lassen. — Hye ist der Vater des Landschulgedankens. Er hat als erster — vor 150 Jahren — die psychologische Differenz zwischen Landkind und Stadtkind ausgesprochen.“

„Ich bin froh, daß ich mit Land und Landkind nichts zu tun habe.“

„Dies wird sich bessern, sobald wieder Lebensmittelkarten kommen! — Was du nicht vergessen solltest: In diesem Pfatrhof wohnte Suso Heinrich Waldeck als Kaplan.“

„Protektion des Zufalls!“

Außerhalb des Ortes umgab uns Sonne und leises Aehrensingen. Das hohe, grüne Korn wallte geschmeidig im Anhauch spielerischer Winde. Wo Grannen und Aehren stärker bewegt wurden, strahlten sie violett oder bronzen. Fast weiß lag darin die schmale Straße.

Arbeiten und Pläne trieben unser Gespräch.

Es war ein warmer Tag. Die Schrollmen weniger Kartoffeläcker starrten grau und dürr. In einem Hohlweg standen rechts und links hohe, ockergelbe Wände mit bloßen, rotbraunen Wurzeln, die geschmeidig in Luft und Erde griffen. Robinien und Nußkronen überwuchsen die Abbruche und wölbten eine sonngrüne Halle.

Wir gewannen Höhe, stiegen vor dem Wald in einen Weinberg hinauf und sahen zurück ins Tal.

„Korn, nichts als Korn!“ sagte der Gast.

Ich nahm aus der Aktentasche ein Bild: Van Gogh: „Die Ebene von Auvers.“ Albert sah mich an, das Tal vor uns und wieder das Bild.

„Du bist der Narr der Heimat“, sagte er, „und auf dem Umweg über Frankreich willst du mich bekehren. Bitte! Gegen van Gogh läßt sich schwer etwas vorbringen. Zur Zeit des hohen Korns hat die Ebene ihren Reiz. Aber sonst dürfte die Malerei im Flachland ...“

„Vorsicht“, unterbrach ich, „die große Malerei lebt geradezu von der Ebene.“

„Wahrheit?“

„Sagen Narren Unwahres?“

Der Wald warf uns dichte, volle Büsche zu, Blumenvielfalt und lautere, starke Düfte.

„Schattiger Laubbcstand!“ ließ Albert gelten.

Flinke Widderchen, stahlblau oder blutrot, zogen über Blätter und Geblüh wie Irrlichter. Und immer höher kamen sie heran: Buchen, Linden, Eichenkönige.

Knapp vor dem Ziel lief ich voraus, um bald zurückzukommen: „Sofort umdrehen! Von Verleihern des Weinlande darf der Gipfel nur rücklings betreten werden. Ich führe dich!“

Albert ließ sich heranbringen, dann riß ich ihn herum und wies in eine bestimmte Richtung.

„Ja, das ist ja ...“

„... der Schneeberg, dein Schneeberg.“

Weit draußen, am allerletzten Rand, nach einem Streifen Ungewißheit, der nicht Erde, nicht Wolke und nicht Himmel war, stand geheimnishaft ein Dom der Lüfte.

„Albert, zwei Wegstunden hinter uns liegt die mährische Grenze. Er steht vor der steiri-schen. Hast du erwartet, ihn zu sehen?“

„Nein. Allerhand! Ich danke.“

„Wir sind noch nicht fertig. Hast du vom Dämon Oesterreichs gehört?“

„Spukgeschichten liebe ich nicht!“

„Spuk? — Dieser Ulrich von Eitzing war unbequeme Realität. Er führte gegen den Vater Maximilians, Friedrich III., einen langwierigen Krieg und hätte ihn um ein Haar in Wiener Neustadt gefangen.“

„Was hat dies mit dem Buchberg zu tun?“

„Dort unten in Mailberg wurde Eitzings Verschwörung beschlossen. Die .Mailberger' — wie man sie kurz hieß — sind wohl die stärkste politische Partei, die jemals in Oesterreich auftrat. Sie befaßte die Staatskanzleien zwischen Rom und Brandenburg.“

„Weiter, bevor Jahreszahlen kommen!“

„Hans Naderers .Unheiliges Haus' kennst du. Siehst du den rostbraunen Kuppelturm? Dort — In LInter-Stinkenbrunn — wurde Naderer geboren. Weißt du übrigens, woher Rektor Josef Schnitt stammt, der Betreuer der Wiener Sängerknaben? — Aus Mailberg.“

Ich wartete.

'„Fällt dir nichts auf?“

„Nein!“

Ich zeigte nach Südwesten.

„Wullersdorfl Zwei Türme wie Melk, Barock wie Melk, erbaut von Prandtauer wie Melk.“

„Gewisse Aehnlichkeit“, geizte Albert.

Ich nahm aus der Aktentasche ein dickes, hellrotes Buch: „Leo Tolstoj, Krieg und Frieden“, wies ich auf den Titel.

Albert sah mich an.

„Sind wir in Rußland?“

„Wir sind im Weinviertel, und seitwärts von Wullersdorf steht eine kleine, blaugraue Turmspitze: Schöngrabern! Die Kirche ist eines der bedeutendsten romanischen Baudenkmäler Mitteleuropas. Und v o r Schöngrabern, an der Straße - du siehst ihre Baumzeilen —, steht das Denkmal der Schlacht von Schöngrabern.“

„Was kann Tolstoj dafür?“

„Tolstoj beschreibt in diesem Roman die Schlacht in allen Einzelheiten. Das Buch liegt ab heute auf deinem Nachtkästchen.“

Albert wanderte mit den Augen den besprochenen Raum zurück: „Wie hoch ist der Mugel, auf dem ich stehe?“

„Der Berg, den zu betreten du die Ehre hast, mißt 416 Meter ab Adria.“

„In der Innsbrucker Maria-Theresien-Straße befinde ich mich um 150 Meter höher.“

„Sind wir in Tirol?“

„Warum bist du, bevor wir heraufgekommen sind, vorausgelaufen?“

„Den Schneeberg — oft auch Cetscher und Hochschwab — sehen wir dann, wenn wir im Ort drinnen glauben, wir nehmen vom Wald jeden einzelnen Baum aus. Heute aber wollte ich völlig sicher sein.“

„Ihr seht also die Alpen nur bei besonders günstiger Witterung.“

J a.

„Ist euch vergönnt!“

„Bitte, wenn dich der Süden provoziert, schau nach Norden: Pulkau, berühmter Flügelaltar — Retz, erstes kirchliches Gesangbuch Oesterreichs — Znaim, Klemens Maria Hof-bauer und Ebner-Eschenbach — Poppitz, Geburtsort von Charles Sealsfield-Postl. Nach Znaim das Fischer-von-Erlach-Schloß Joslowitz, davor Seefeld — es sah das prunkvolle Begräbnis des letzten Kuenringers —, weiter im Osten Burg und Stadt Laa, .Schlüssel des Hauses Habsburg', dahinter, schneebergähnlich, die leuchtenden Pollauer ...“

Albert holte Atem.

„Lesung beendet?“

„Vorläufig!“

Wir gingen über eine kleine, baumlose Kuppe. Eine Kette Rebhühner, voran die Henne, schreckte auf, ließ sich aber bald ins überkniehohe Waldgras. Die Tiere empfanden Behütung in einer Reglosigkeit, die nicht den zartesten Halm rührte.

„Schnell noch in den Steinbruch!“ bog ich ab.

Albert hielt an: „Vielleicht auch einen sozialpolitischen Kursus?“

„Nein. Bloß ein paar übriggebliebene Meeresbewohner: Pilgermuschel, Schnecken, Krebse, Algenkalke ...“

Jäh schlug, peitschte es die Büsche. Hellbraune Anmut, Haupt und Halsansatz eines Rehes, zuckte über das Blattwerk. Erregend verklangen Brechen und Geräusch.

Als Albert in Wien wieder in seinem Büro saß, erzählte er sogar, was er bei uns gesehen und gehört hatte.

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