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Im Tale des Po

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Von den ragenden Gipfeln der Kottischen Alpen bis zu den dunstüberhangenen Lagunen des Adriatischcn Meeres: der Po! Weites, gartengrünes, kanaldurdizogenes, baumbestandenes, fruchtschweres Land: das Potal! Fleißige, wortkarge, arbeitsame Bauern, von den Hängen des Monte Viso bis zu den Deichen zwischen Ferrara und Chioggia: Land am Po! Große, von Westen nach Osten reichende, verzahnende Naht' zwischen Nord und Süd: der Po. Und doch auch: Keil zwischen der Nation, zwischen Alpen und Apennin, zwischen der Härte und dem revolutionären Schwung der Industriearbeiter des Nordens und dem lebenslustigeren, versöhnlichen Sohn der südlichen Städte und der warmen Küste: der Po.

Der Roman dieses Flusses, der Roman dieser Landschaft ist noch nicht geschrieben. Hier sind die Städte nicht kühne Felsennester aus vergangenen Jahrhunderten, hier stehen keine säulenschlanken Zypressen vor tiefblauen Seen, hier schatten keine Pinien vor antiken Tempelhallen — hier ist nur fruchtbares Land links und rechts des Stromes. Hier ist die Landschaft der vielen kleinen Städtchen und Dörfer, die alle nicht berühmt und deren Bewohner nicht in alten noch in neuen Liedern besungen wurden, Menschen des „paese“ schlechthin, das man nicht mit „Land“ und nicht mit „Dorf“ übersetzen kann, weil jedes Dorf in Italien nur ein ganz verlassenes Nest, aber immer der Abklatsch eines Städtchens ist. Auch was hier wächst, ist nicht berühmt — nur nahrhaft ist es. Weizen und Reis auf den Feldern, Äpfel und Maulbeeren an den Bäumen, sauren, schäumenden Lam-brusco in den Fässern und schlechte Kühe auf den Weiden. Man ißt hier nicht mehr die Polenta wie droben in den Hügeln und Bergen der Lombardei und Venetiens, man kennt nicht die Südfrüchte der Mittelmeerküste wie drüben in Ligurien und man erzeugt hier nicht die unnachahmlichen Spaghetti wie in Neapel, dem Weine fehlt die süße Schwere des echten Chianti und die edle Spritzigkeit der hellen Säfte von Orvietö, die Blume des Valdagno und die Herbe der piemontosischen Hänge. Aber Bologna, das, am Hange des Apennin, den Reichtum des Po-Tales auffängt, hat den Beinamen „La Grassa“ und ist stolz darauf. In Cremona, wo der Po vom Fluß zum Strom wird und die unabsehbaren Felder beginnen, wird Italiens süßeste und von seinen Kindern begehrteste Leckerei, die „torrone“ erzeugt, und keine andere Gegend konnte bisher den Geschmack und die Art des Parmesankäse auch na -rrei-chen, den man in den kleinen Dörfers zwischen dem Poufer und der Via Emilia herstellt.

Fast 700 Kilometer mißt der Lauf dieses Flusses, der Italiens größter ist und es in zwei Hälften teilt. Viele Brucken führen über diesen Fluß, von den kleinen Holzstegen ingefangen, die ihn in Savoyen überqueren, ehe er bei Saluzzo in die Ebene eintritt, bis zu den weitgespannten Eisenbrücken bei Cremona, Ostiglia und Fer-rara. Sie alle hat dieser Krieg zerstört, der nach so vielen anderen in das Potal einbrach, aber wütender und wilder als je einer zuvor. Die Schlacht um das Potal, die am 9. April 1945 begann, war am 30. schon zu Ende — vorhergegangen aber war ein Jahr Luftkrieg und es war keine Brücke zwischen Pavia und dem Delta, die unbeschädigt blieb. Die großen, die über den Po selbst führten, konnten schon seit dem Herbst 1944 nicht mehr repariert werden und im Winter und Frühling 1945 blieb auch keine der vielen tausend kleinen Überfahrten über die Seitenflüsse, die kleinen Gräben und Gerinne unangegriffen. Im ganzen Potal gab es keine Eisenbahn mehr und die Dörfer an den Hauptstraßen waren Schutthaufen, vereinsamte Ruinennester und ausgestorbene Geisterstädte.

80 Meter baut sich der Fluß jährlich ins Meer hinaus, schüttet er sein eigenes Land auf, um es dann wieder zu durchfließen. So ist es erklärlich, daß die Stadt Adria, die einst dem Meer den Namen gab, heute mehr als 20 Kilometer von ihm entfernt liegt, mitten im Festland, am „Canale bianco“, dem nördlichsten der großen Mündungsarme des Po. „Padus“ nannten die Römer den Fluß und wenn auch die Italiener „il Po“ sagen, so ist das Tal doch das „padanische“ geblieben, dieses seltsamste aller europäischen Flußtäler, weil es kein Tal ist, sondern eine weite, breite Ebene, zum Garten geworden durch das befruchtende Wasser und durch den Fleiß seiner Bauern.

Der Po: er ist ein Kind Savoyens und er ist der Vater Italiens, denn hier findet das Land seine sicherste und reichste Ernte bereitgestellt. Liebevoll sind die Äcker, wirklichen Gärten gleich, zwischen Fluß und Straßen gezogen, sorgsam werden sie bestellt und betreut und es gibt kaum eine Mißernte, wenn auch im reicheren Süden die Trockenheit alles vernichtet oder im gebirgigen Norden die Kälte und die Sturzwässer Schaden verursachen. Dieses Land hier in der Mitte besingt man nicht, aber man lebt von ihm. Die Reisenden, die Italien suchen und damit den Süden schlechthin meinen, die Palmen und die romantische Landschaft, sie ziehen enttäuscht die Vorhänge ihrer Abteile wieder zu und beschließen, weiterzuschlafen oder weiter zu lesen, wenn sie, zwischen Verona und Bologna, zwischen Mailand und Vog-hera oder zwischen Padua und dem Futa-paß, nichts weiter erblicken als Äcker und Wiesen, langweilige Bauerndörfer und schnurgerade Straßen. Und vollends der Winter hat hier schon viele enttäuscht, die Wärme und Geborgenheit suchten und nichts fanden, als eisige Kälte, Schnee oder frostigen Nebel. Im Sommer aber glüht dieses Land und der Dunst der vielen Wasserläufe liegt schwer und drückend. über der Ebene. Erst der Herbst bringt jene klaren Tage, da man, am Flußufer stehend, im Süden die scharfzackigen Ketten des Apennin und im Norden die eisschimmernden Gipfel der Alpen sehen kann. Verklärt und reich an Früchten ist dann die Landschaft. Tagaus, tagein rollen die Wagen mit den reifen Tomaten in die Konservenfabriken, man führt den Reis ein und drischt ihn auf den Riesentennen, um die sich die Gebäude der großen Gutshöfe gruppieren, die Hunderte von Kühen in sauberen Ställen stehen haben und in deren Vorratskammern die Riesenlaibe des Parmesankäses fünf Jahre lang ruhen müssen, ehe sie für gut befunden werden, in die Minestra gerieben zu werden oder auf den fetttriefenden Risotto. Die Obstläden an der Via Emilia sind bunter und reicher als sonstwo in Italien: Pfirsiche fast wie Kihderköpfe, Pflaumen wie Gänseeier, purpurne Melan-zani und goldgelbe Birnen locken in verschwenderischer Fülle und unerreichter Süße. Man lebt hier einfach und ohne Aufwand, im kleinen „paese“ — die Frauen rtets im Schwarz ihrer Kleider und Schürzen, die Männer mit der Mantilla um die Schultern. Dunkles Brot kennt man nicht, im Potal — es ist leuchtend weiß und fest. Man braucht es so zu den fetten Würsten und dem harten Schinken, den man in Därme dreht und räuchert.

Im Norden die Lombardei und Venetien, im Süden die Emilia und die Romagna: dazwischen der Po! Im 6. Jahrhundert nach Christi ist diese Landschaft zum Keil zwischen den beiden Italien geworden. Damals kamen die Langobarden ins Land und Alboin, ihr großer König machte Pavia zur Hauptstadt seines Reiches. Bis inj 19. Jahrhundert wirkte diese Dreiteilung Italiens noch nach und selbst heute spüren wir sie noch, wenn wir einerseits mit Mailändern reden und andererseits mit Römern. Die Mitte Italiens mit der ewigen Stadt hielt damals der Kirchenstaat zusammen und bewahrte so auch die Tradition von Sprache und Volk. Norden und Süden aber gingen ihre eigenen Wege, waren Staaten und Fürstentümer, Teile anderer Reiche und Vasallen bald auf dieser, bald auf jener Seite.

Die Römer hatten ihre Legionen schon im 2. Jahrhundert'vor Christi bis in die Poebene vorgetrieben, die damals noch ein wildes Sumpfland war. „Gallia cisalpina“ hieß die Provinz, die durch befestigte Lager in Cremona und Piacenza gesichert war, bald aber in der Ungewißheit der karthagischen Kriege bedeutungslos wurde. - Hannibal zog durch die Poebene, gallische Aufstände machten sie zum Kriegsgebiet und erst nach dem Siege über Karthago wurde dieses Land planmäßig besiedelt und befestigt. Damals baute der Konsul Marcus Aemilius Lepidus die große Straße, die in Rimini an die aus Rom kommende Via Flaminia anschließt und am Hang des Apennin entlangläuft, das damalige Sumpfgebiet der Poniederung meidend. Sie, die heute alle großen Städte rechts des Stromes verbindet und über Bologna bis nach Cremona führt und so den Anschluß nach Mailand herstellt, trägt als „Via Emilia“ den Namen ihres Schöpfers. Forli und Bologna, Modena und Reggio, Parma und Piacenza liegen nicht a n ihr, sonden auf ihr — alle diese Orte sind heute noch genaue Quadrate im Grundriß der römischen Lager und in allen ist die durchgehende „Emilia“ die Hauptstraße.

Eineinhalb Jahrtausende hindurch war das Potal Kreuzungsraum der europäischen Kraftlinien. Hier rangen die Mächte des Abend- und des Morgenlandes miteinander, hier begegnete die Politik der französischen Kaiser dem Streben der habsburgisehen Hausmacht und den Absichten der Päpste. Kriegsheere aller Nationen Europas durchzogen das Tal von oben nach unten und von der Mündung bis zu den Bergen. Italien selbst gab es damals nicht und was es davon gab, lag abseits oder war erst im Werden. Im Quellgebiet des Po, in den Hochtälern Savoyens wurde Italien geboren, hier reifte die Macht heran, die es später einigen und zum Königreich machen sollte. Die Poebene ist zuvor noch in Meine Fürstentümer geteilt, in Fürstentümer, die aber mit den mächtigsten Häusern Europa liiert sind und die vor allem — dank des reichen, wenn auch unberühmten Landes — Geld haben und wenig Sorgen. In Parma residiert Maria Luise und macht die Stadt zu der der vielen Säulen und sich selbst bis zum heutigen Tage beliebt und unvergessen. Aus Venetien herab reicht der habsburgische Besitz bis an den Po und zeitweilig auch darüber hinaus. Am Unterlauf ist Ferrara als Residenz der Este berühmt geworden und nur Venedig, das jenseits des • vom Strom aufgeschütteten Deltas auf den Laguneninseln liegt, blieb, solange es groß war und mächtig, stets außerhalb aller Ereignisse im Potal. Seine Kreise waren weiter gezogen, seine Bindungen anderer Art und den Markuslöwen finden wir zwar auf den Marktplätzen der oberitalienischen Städte von Vicenza und Padua bis Verona, aber nirgends im Tale des Po.

Aus den Alpen und aus den Apenninen kommen die Nebenflüsse des Po. Als wichtigster im Oberlauf die Dora Riparia, die bei Turin einmündet. Von der hochgelegenen Superga aus können wir das Potal überschauen und seine schönen Ufer, die kilometerweit ein einziger Park sind. In Pavia müssen wir,zweimal über die Brücken: zuerst über den Po, dessen alte Römerbrücke auch der Bombenkrieg nicht ganz zerstört hat, und dann nochmals über den Ticino, der vom Gotthard herabkommt und vom Lago Maggiore. Tn Cremona ragt der Campanile über der Stadt auf, er ist der höchste in ganz Italien. Die Kunst des Geigenbaues hat hier einst die Namen Amati und Stradivari berühmt werden lassen. In Mantua ist Virgil geboren und in Parma Corregio großgeworden. Dazwischen liegt, in einem weiten Park bei Busseto, Verdis Heim, Sant' Agata. Ist die Landschaft schon nicht berühmt, so sind es also doch diese und noch andere ihrer Söhne geworden. Sie selbst kann sich damit begnügen, reich und gut bestellt zu sein. Das macht sie lange schon zur wahren Mittlerin zwischen den Zentren Italiens, die um die geistige Führung streiten und um die politische Linie. Wenn sie klug sind und wirklich dem Volke dienen wollen, dann machen sie das Tal des Po zur festen Naht und die unangekränkelte Seele seiner Bewohner zur gesunden Basis des neuen Italien!

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