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Das Banner der Armut sinkt

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Die zwischen engen Hausfronten zum Trocknen ausgehängte Wäsche erscheint dem Reisenden aus dem Norken wie das bunte Banner der Armut. Hartnäckig erhält sich das Bild des Elends in romantischer Verklärung: wo die Esel, grau und staubig wie die -andschaft, unter dem kargen Baum- - chatten dösen, wo halbnackte oder mit bunten Fetzen bedeckte Kinder sich im Straßenschmutz balgen, da weiden die Photoapparate gezückt wie früher einmal die blondbärtigen Maler ihre Staffelei aufstellten. Doch wird es immer schwieriger, so ein unverfälschtes Armutsbild auf den Film zu bekommen. Fremde- Elemente., mischen sich störend hinein: über, der .Wäsche ragt, ein Wäldchen von TV-Antennen in den blauen Himmel; vor den Haustoren steht die Butan-Gasflasche zum Abholen bereit; statt auf einem Esel reitet der junge Bauer unter enormer Lärmentwicklung auf einer Vespa, Geräusch und Schnelligkeit sind Ausdruck seiner Vitalität.

Die Armut ist noch nicht im Aussterben begriffen. Man ist nur dabei, ihr an den Leib zu rücken. Zum erstenmal in der Geschichte Italiens, des Bourbonen-Königsreiches und aller vorangegangenen Herrschaften von Franzosen, Spaniern, Normannen, Arabern, Byzantinern ... Das Problem des Südens ist uralt und bereits seit langem erkannt. Es gibt zum Teil sehr scharfsinnige Studien über die Ursachen der Armut Süditaliens aus dem vergangenen Jahrhundert. Die „Mezzo-giorno“-Literatur könnte eine Bibliothek füllen. Es sind auch öffentliche und halböffentliche Einrichtungen, Institute, Gesellschaften entstanden, die sehr nützliche Ratschläge für die Entwicklung des Südens geben konnten. Nur daß der Süden nicht so sehr Bedarf an Studien und Ratschlägen hatte als an Geld, Geld und wieder Geld. Dieses aber war es, was man ihm in der Geschichte Italiens, des Bourbonen-Königsreiches usw. niemals geben wollte, im Gegenteil, jede neue Besteuerung traf den Süden härter als den Norden.

Der republikanische Staat hat dem Süden endlich Geld gegeben. Mit einer beachtlichen finanziellen Anstrengung ist die 1950 ins Leben gerufene Finanzierungskasse für den Süden, die ,.Cassa per il Mezzogiorno“, dotiert worden: Bis Ende Juni hat sie 1789 Milliarden Lire, das sind mehr als 70 Mrd. Schilling, in die unterentwickelten Gebiete gepumpt, davon 1044 Milliarden für die notwendigen „Unterstrukturen“, für Straßen, Boni-fizierungen. Wasserleitungen, Brücken, und 722 Milliarden als Darlehen oder Subventionen an Private. Zum erstenmal ist Geld nach dem Süden geflossen, statt daß man aus seinen trockenen Brunnen geschöpft hat. Die finanziell“Berieselung hat das Land allerorts zum Grünen gebracht, und hier und dort beginnt man die ersten Früchte einzubringen. Man kann das auch buchstäblich nehmen: Die Bewässerungsanlagen, in einem Jahrzehnt entstanden, führen einer Anbaufläche von 550.000 Hektar Wasser zu, dazu kommen 2 Millionen Hektar versumpften Gebietes oder Heide, die durch Meliorationen anbaufähig wurden. Es ist, als ob Italien um zweieinhalb Millionen Hektar größer geworden sei. Teilweise handelt es sich um imponierende Werke, wie die Aufstauung des Flumendosa in Sardinien mit ihren 120 Meter hohen Dämmen. Sie macht 100.000 Hektar der Ebene von Cag-Iiari fruchtbar, gibt 200.000 Menschen Trinkwasser undf reibt “Kraftwefcke, die einen großen Teil Süditaliens mit elektrischer Energie versorgen.

Süditalien ist arm, weil es bisher notgedrungen fast ausschließlich auf die Landwirtschaft hin orientiert war, noch dazu auf eine extensive Landwirtschaft, auf Brotgetreide und Weide. Die Anzeichen der Veränderung — Veränderung heißt noch lange nicht Wohlstand — treten von dem Augen-Wiek ein, da die Abwanderung der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu anderen Erwerbszweigen einsetzt. Die Flucht aus der Landwirtschaft nimmt einen immer schnelleren Rhythmus an. Zwischen 1951 und 1957 haben 1,2 Millionen Arbeitskräfte die Landwirtschaft verlassen, 1958/59 wurden es rund 200.000 jährlich, im vergangenen Jahr mögen es 350.000 gewesen sein. Während der fünfjährigen Zeitspanne zwischen den beiden letzten Volkszählungen haben 1,9 Millionen Menschen ihren Boden verlassen, 900.000 davon sind nach dem Norden ausgewandert. Der jährliche Menschenstrom nach dem lockenden Norden umfaßte 1961 rund 130.000 Seelen; 50.000 gingen ins Ausland. So kommt es, daß der Anteil des Südens an der Gesamteinwohnerschaft Italiens laut Volkszählung trotz ungleich höherer Geburtenzahlen gesunken ist.

Die Landflucht hat jedoch ihren bösen Klang verloren. Heute betrachten die italienischen Volkswirtschaftler und Soziologen die Abwanderung iiv die Städte und zu anderen Berufszweigen nicht mehr als das Übel, wie es bisher Sitte war. Das Aufgeben von Grundstücken in der Ausdehnung-eines Taschentuchs, das resignierte Verlassen der Kleinhöfe im Gebirge, wo eine rationelle Bewirtschaft in den überkommenen Formen nicht mehr möglich ist, wird nicht unbedingt als Nachteil empfunden. Das aufgegebene Land kann wieder Weide werden und eröffnet Möglichkeiten für eine großzügige Wiederaufforstung, die unter Aufwendung großer Mittel versucht wird. Die Abgewanderten kommen aber in zunehmendem Maße der Industrie zugute, wo sie ohne große Mühe absorbiert werden, vorausgesetzt, daß sie sich anlernen lassen. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl der Beschäftigten in den letzten zehn Jahren im Süden um 20,1 Prozent, in Mittel- und Noraitalien um 15,7 Prozent zugenommen hat.

Bei aller Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion ist es den berufenen Stellen doch klar, daß die Erlösung des Südens nur durch die Industrie erfolgen kann. Die Fachleute haben „Entwicklungspole“ studiert, um die sich die Fabriken wie Eisenfeilspäne ordnen sollen, in Zonen, wo gewisse Vorbedingungen wie die Verfügbarkeit von Wasser, elektrischer Energie, Arbeitskräften und Verkehrswegen gegeben sind. Solche Entwicklungszentren sind Neapel, Caserta, wo die metallmechanischen Werke des I. R. I. und die keramische Großindustrie Pozzi beträchtliche Investierungen vornahmen und mehrere tausend neue Arbeitsplätze schufen. In Neapel gab es einen alten Arbeiterstand, der sich leicht umschulen ließ. Die Umstellung von der Kriegs- auf Friedensindustrie hatte die ILVA-Werke in Bagnoli dahinsiechen lassen, aber nach der Moder nisierung der Anlagen sind sie zu den produktivsten Italiens zu zählen. In die Zone von Neapel zogen, durch die finanziellen Erleichterungen angelockt, Zweigbetriebe von Pirelli, Sunbeam, Remington, Rhodiatoce, Alfa Romeo und allen zeitlich voran Olivetti. Der Ansiedlung von Olivetti in Pozzuoli kommt gewissermaßen historische Bedeutung zu, denn sie war Pionierarbeit und bewies in einer Zeit, da man in der italienischen Prwatindustrie noch wenig an die Industrialisierungsmöglichkeiten des Südens glaubte, viel Mut und Verausskht. Es fiel zunächst das Vorurteil gegen die südliche Arbeiterschaft. Sie zeigte sich höchst anstellig und nicht weniger diszipliniert als die des Nordens.

Andere „Entwicklungspole“ gibt es in Salerno, an der apulischen Küste (In Brindisi entsteht ein enormes petro-chemisches Werk der Montecatini), in Tarent ist ein Stahlwerk der Gruppe Finsider im Bau, in Sizilien gruppieren sich um die neuen Fundstätten von Kalisalzen und Erdöl neue Industrien der Gulf Oil und der staatlichen Erdöl-Kompanie E. N. I. Der resignierte Ausspruch von Guglielmo Marconi, wonach Italien „nur reich an armen Rohstoffen“ sei, stimmt nicht einmal für den italienischen Süden.

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