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Italiens Wirtschaft nach dem Kriege

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Die abziehenden Armeen Kesselrings hatten bei ihrem Rückzüge aus M i 11 e 1- und Süditalien ganze Arbeit geleistet: fast alle Brücken wurden gesprengt, die elektrischen Zentralen zerstört, Eisenbahnmaterial und maschinelle Einrichtungen der Fabriken abtransportiert, die gesamte Wirtschaft in einem vollkommenen Chaos zurückgelassen. Die italienische Regierung stand vor der Schicksalsfrage: Wird Norditalien ebenso zerstört sein? Bekanntlich befinden sich 80 Prozent der Industrie in den Nordprovinzen und eine Verniditung derselben hätte die unheilvollsten Folgen haben müssen. Zum Glück ersparte der überstürzte Rückzug viel weiteres Unheil. Die Verhältnisse, die man vorfand, waren über Erwarten tröstlich. Damals verbreitete sich in Italien eine Welle des Optimismus und selbst Fachleute äußerten sich dahin, daß unter allen Ländern Europas Italien als erstes seine Auferstehung feiern werde.

Wenn diese Hoffnungsfreudigkeit seither zurückgeschraubt wurde, ist der Grund in verschiedenen Ursachen zu suchen. Vor allem wirkte die politische Unsicherheit lähmend auf die Wirtschaft. Erst nach Durchführung der Wahlen, Bildung einer Regierung und Aufstellung eines Wirtschaftsprogramms konnten feste Schlüsse auf die nächste Zukunft gezogen werden. Zunächst konnte von einer wirklichen Wirtschaftspolitik nicht gesprochen werden. „Politique d'abord“ war das Schlagwort. Alle Maßnahmen waren für den Augenblick gedacht, zur Abstellung allzu schreiender Mißstände oder um irgendeiner gefährlich gewordenen Agitation zu begegnen. Manche erwies sich sogar als wirtschaftshindernd.

Schließlich war die valutarische und finanzielle Lage Italiens schlimm. Das energische Eingreifen De Gasperis, beziehungsweise seines Finanzministers Corbino bedeutete eine Umkehr. Es folgte nun ein Jahr mit den bekannten Deflationserscheinungen, Absatz-krise, Steigerung der Arbeitslosigkeit usw., die noch nicht überwunden sind. Wie labil die Wirtschaftslage noch immer ist, zeigt der Waren- und Börsenindex. Seit dem vorigen Sommer haben fast sämtliche Werte die Hälfte ihrer Notierung eingebüßt; dann begann einige Wochen hindurch eine wütende Hausse, die bis 120 Prozent ausmachte, um binnen wenigen Tagen wieder Einbußen bis 20 Prozent zu erleiden. Auch die Devisennotierungen am freien Markt schwanken bedenklich. All diese Erscheinungen zeigen, daß man vom Normalen noch entfernt ist.

Noch hemmender wirkte lange der ungeheure Rohstoffmangel des Landes. Italiens Rohstofflage ist nicht unähnlich der Österreichs, vielleicht sogar noch ungünstiger. Kohle fehlt, abgesehen von einigen minderwertigen Braunkohlenlagern vollkommen, die Eisenvorkommen der Insel Elba und in Toskana decken kaum einen Bruchteil des Bedarfes. Ebenso fehlen Metalle, Rohöl, Holz, Wolle, also so ziemlich alles, was zum Aufbau der Wirtschaft notwendig wäre. Die einzigen nennenswerten Aktiven sind die Wasserkräfte, Seide, Südfrüchte, Hanf und Schwefel. Zu all dem kam, daß die Ernährungslage des Landes geradezu katastrophal war. Schon in normalen Zeiten ist Italien auf Einfuhr von Getreide und Fette angewiesen gewesen. Italiens Bedarf beträgt ca. 80 Millionen Meterzentner Getreide, wovon im letzten Jahre kaum die Hälfte vorhanden war, nur ein Bruchteil wurde abgeliefert. Vom Dezember an war Italien vollständig auf die Getreidelieferungen der UNRRA angewiesen. Aber selbst die vorhandenen Ressourcen konnten infolge der Verkehrsverhältnisse nicht ausgenützt werden. Ein Großteil des Oberbaues der Bahnen war zerstört, das rollende Material verschleppt worden. Rom und Neapel sahen acht Monate hindurch keine Eisenbahn, den Verkehr besorgten damals ausschließlich Lastautos. Eine Reise von Sizilien nach Mittelitalien kostete nahezu 10.000 Lire, von Mittelitalien nach Mailand ungefähr das gleiche. Ganz langsam konnte aufgebaut werden. Eine Art Notverkehr ist erst vor einem halben Jahr wieder aufgenommen worden (ein Zugspaar auf der Hauptstrecke Mailand—Rom, Fahrtdauer 33 Stunden, später 25 Stunden, gegen 10 Stunden normal).Natürlich waren die Züge in einer Weise überfüllt, daß nur die Robustesten sich diesen Strapazen aussetzen durften; erst im Sommer sind die ersten Schnellzüge wieder eingeführt worden. Und noch trauriger sah es mit dem Lastenverkehre aus, hatte doch Italien 80 Prozent seiner Lastwagen eingebüßt. Das Haupttransportmittel ist und bleibt daher vorderhand das Lastauto, das aber den Verkehr entsprechend verteuert. Für ein Kilogramm wurden anfangs 80, heute noch 40 bis 50 Lire von Norditalien bis Rom berechnet; man bedenke, welch unmögliche Belastung dies für Konsumgüter oder gar schwere Rohstoffe bedeutet. Ein Kilogramm Reis, der in Piemont 40 bis 50 Lire kostete, stellte sich zur gleichen Zeit in Mittelitalien auf 140, in Süditalien gar auf 190 Lire.

Wenn trotz all dieser Hindernisse die italienische Wirtschaft und besonders die Industrie schon Fortschritte aufweisen kann, so ist dies der Initiative und Intelligenz des italienischen Industriellen zu verdanken. Besonders die Klein- und Mittelindustrie hat Großes geleistet. Naturgemäß hatten jene Industrien, die auf Kohlen angewiesen waren (Zucker-, Metallindustrien) am schwersten zu kämpfen. Nur die energische Aktion der UNRRA hat sie vor dem Ärgsten bewahrt. Andere Industrien, die elektrische Energie verwenden (Textil-, Aluminium-, Porzellanindustrie usw.), haben sich rascher erholt und konnten sogar an Export denken. So wurde bereits ein Million Kilogramm Rohseide ausgeführt, auch die Konfektions-, Schuh-, Maschinen-, Automobil- und Konservenindustrien haben namhafte Auslandsaufträge zu verzeichnen und italienische Werften arbeiten für ausländisches Konto. Nachdem Südfrüchte schon seit über einem Jahre ausgeführt werden, ist vor kurzem auch der Export frischen Obstes nach England wieder aufgenommen worden, bei den heutigen Verkehrsverhältnissen Europas keine geringe Leistung!

Der Außenhandel spielt sich zumeist im Kompensationswege ab. Wenn dies der individuellen Geschicklichkeit auch einen großen Spielraum läßt, so hat dieses System immerhin seine Nachteile gezeigt. So hat zum Beispiel der anfängliche hohe Inlandspreis für Kaffee und Baumwolle die Importeure zum Ankauf derartiger Mengen angeregt, daß heute der Hafen von Genua von diesen Waren geradezu verstopft ist.

Ein schweres Problem bildet für Italien auch die Arbeitslosigkeit. Deren Bekämpfung kann eigentlich erst mit der Beschaffung von Kohle und Rohmaterialien richtig einsetzen. Vorderhand muß Italien trachten, seine unbesdiäftigten Arbeiter in Länder mit Arbeitermangel (Kohlengruben Belgiens und Frankreichs unterzubringen.

Und die Prognose für die Zukunft? Es ist alles nicht so schlimm, wie es am Anfang aussieht, wenn man die Hindernisse tapfer angeht. Man kann heute bereits mit Sicherheit behaupten, daß, falls nicht unvorhergesehene Umstände eintreten, die italienische Volkswirtschaft trotz allem nach Inkrafttreten des Friedensvertrages und Ausarbeitung eines wirtschaftlichen Programms durch die Regierung eine stark aufsteigende Kurve aufweisen wird. Ptolomäus

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