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Digital In Arbeit

Geschäft mit der Krise

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Italien bietet in diesen Tagen ein widersprüchliches Bild: Während alle Verantwortlichen, vom Staatspräsidenten bis zum letzten Kommentator einer Provinzzeitung, das Wort vom „Staatsbankrott“ im Munde führen und Guido Carlis Denkerstirn wegen des 5,5-MHliarden-Defizits in seiner letzten Zahlungsbilanz von tiefen Sorgenfalten durchfurcht ist, interessiert sich der Mann auf der Straße im allgemeinen weit mehr für Fußballweltmeisterschaften als für die wirtschaftliche Misere.

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Italien bietet in diesen Tagen ein widersprüchliches Bild: Während alle Verantwortlichen, vom Staatspräsidenten bis zum letzten Kommentator einer Provinzzeitung, das Wort vom „Staatsbankrott“ im Munde führen und Guido Carlis Denkerstirn wegen des 5,5-MHliarden-Defizits in seiner letzten Zahlungsbilanz von tiefen Sorgenfalten durchfurcht ist, interessiert sich der Mann auf der Straße im allgemeinen weit mehr für Fußballweltmeisterschaften als für die wirtschaftliche Misere.

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Bei seiner Umfrage in lombardischen Fabriken zum Thema „Was halten Sie von der Krise?“ mußte Giuliano Zincone dem angesprochenen Arbeiter jedesmal erklären, welche Krise gemeint war, sonst hätte sich der Befragte in ausführlichen Darlegungen über die Nationalmannschaft ergangen. „Es geht mehr um Gigi als um die Grigi“, faßte Zincone seine Ergebnisse zusammen. Gigi Rivas Wohlergehen, besonders seine Achillesferse, und ob er mit seinem nicht mehr so beweglichen Bein, wie in Mexiko, die entscheidenden Tore schießen kann, bewegt die Nation offenbar mehr als die Kümmernisse der „Grigi“, nämlich all der „grauen“ Eminenzen, die — wie der Gouverneur der Banca dTtalia, Carli — seit Jahr und Tag das gute und schlechte Wetter in Italiens Wirtschaft machen... soweit sie es noch machen können.

Siegen bis zum Untergang

Die Sorglosigkeit der Lohntütenitaliener kommt nicht von ungefähr. Der automatische Teuerungsausgleich gehört zu den Conquiste (Eroberungen) des „heißen Herbstes“ von 1969, als Italiens Arbeitnehmer in Ausständen aller Schattierungen, von milden Streiks bis zum Generalstreik, als Schlußbouquet die Pa-droni, die Arbeitgeber, zu großen Zugeständnissen nötigten. Im Vertrauen auf eine bessere, wenigstens gute Zukunft schickten sich die Unternehmer ins Unabänderliche. Das Verzögern der Unterzeichnung der für die Arbeitnehmer vorteilhaften Gesamtarbeitsverträge hatte sie bereits 360 Millionen Arbeitsstunden gekostet, mit Produktionsverlusten, die in die Hunderte von Milliarden Lire gingen. Die italienischen Unternehmer zählten auf eine Portdauer der internationalen Hochkonjunktur und hofften, mit Produktionsteige-

rungen die Einbußen wiederum ausgleichen zu können.

Bei dieser Kalkulation hatten sie die Rechnung ohne den Wirt, nämlich ohne die arabischen Ölscheichs und — Ärvor noch — ohne Präsident Nixons Alleingang in Währungsangelegenheiten gemacht. Wenn sich in anderen Ländern mit vermehrter und verbesserter Arbeitsleistung und großen Reserven die Unternehmer gut über Wasser hielten oder gar das internationale Debakel zu ihren Gunsten ausnutzen konnten, sahen-sieh die Padroni neben hohen Sozialaibgaben, die bis 80 Prozent der Löhne ausmachen können, besonders vom Absentismus (gemeint ist das massenhafte Fernbleiben der Arbeitnehmer von ihren Arbeitsplätzen) in die Zange genommen. Unter solchen Vorzeichen mußten zahlreiche kleine und mittlere Betriebe die Portale schließen oder — was häufiger vorkam — wurden sie kurzerhand von den halbstaatlichen Enti ä la IRI oder ENI aufgekauft und übernommen. Einmal unter den Fittichen der Staatswirtschaft, konnten diese Betriebe existieren, ohne sich zu rentieren. Die Stunde der Wahrheit schlug daher immer weniger oft den Unternehmen — bis sie dem Staate selber schlug.

Während die Privat- und staatswirtschaftlichen Betriebe, gemessen an ihrer Produktivität und Rentabilität, allzu hohe Löhne und Sozialleistungen entrichteten, verschuldete sich jeder, wo er konnte. Dje kleinen Unternehmen bei den Banken, die in Italien fast ausnahmslos direkt oder indirekt verstaatlicht sind, und der Staat mit Anleihen bei seinen Bürgern, soweit die Kapitalgeber mit ihren Ersparnissen nicht ins Ausland flüchteten. Das Ergebnis war eine Geldentwertung und Teuerung sondergleichen im südamerikanischen Stil, die den sozial wirklich

schlecht gestellten, den 2,2 Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftig-ten, den Pensionisten und Kranken, besonders zu schaffen machte. Nach dem streikgeladenen Herbst von 1969 verwandelten sich die großen Siege der Arbeiter in große Niederlagen für alle jene Schichten, die nicht gewerkschaftlich organisiert und außerstande waren, sich selber zu helfen.

Wäre nicht plötzlich in der Folge der Währungs- und Energiekrise das Schreckgespenst einer Massenarbeitslosigkeit weit über der „normalen“ Grenze von einer Million aufgetaucht, hätte Italien längst einen „heißen“ Frühling wie noch nie erlebt. Die Angst vor der Entlassung größerer Arbeiterkontingente, und vor der Schließung mancher Mammutbetriebe wie Fiat und Pirelli, nötigte die Gewerkschaften zu einem gewissen Wohlverhalten. Angesichts der sogar noch vom Staatspräsidenten in einenj dramatischen Appell an die Nation beschworenen „alarmierenden Situation“ konnte man nicht ohne weiteres mit der Gefolgschaft der Arbeitnehmer rechnen, von denen ja durchschnittlich nur 10 bis 15 Prozent zahlende Mitglieder sind. Die Gewerkschaftsführer wußten, daß, wo Not am Mann ist, jeder, besonders der Italiener, zunächst an sich und dann erst an die Berufs-

kategorie, den Arbeitnehmerverband, die soziale Klasse denkt. Anderseits hielt man an den Errungenschaften des Heißen Herbstes, auch Teuerungsausgleich, fest und ließ davon, wie jetzt überall lauthals verkündet wird, unter keinen Umständen ab.

Unter solchen Vorzeichen ist in Italien seit Wochen eine Kraftprobe zwischen den Gewerkschaftsführern und Regierungsvertretern im Gange, bei der zunächst die Arbeitnehmer den Sieg davongetragen haben. Ob all der Zwistigkeiten zwischen (sozialistischen) Ministern, die sich als Interessenvertreter und Sprachrohre der Gewerkschaften verstanden, und (christdemokratischen und sozialdemokratischen) Ministern, denen eine ausgeglichene Zahlungsbilanz und das Verhältnis zu den EG-Partnern mehr am Herzen liegt, trat das 5. Kabinett Rumor plötzlich zurück. Im Bewußtsein, daß eine politische Krise die wirtschaftliche noch verschärfen müßte, wies der Staatspräsident diese Demission bekanntlich zurück — was Italien in 31 langen Jahren mit 36 Regierungen und ebensovielen Regierungskrisen noch nie erlebt hat. In seinen dreitägigen Konsultationen zur Bildung einer neuen Regierung gelangte Giovanni Leone offenbar zum 'Ergebnis, daß mit dem üblichen „Karneval“-Rollen und der Auferstehung der gleichen Köpfe die tiefschürfende Krise keineswegs beigelegt, ja nicht einmal entschärft werden könne.

Machtübergriff des Staatspräsidenten?

Ob sich die unzimperlichen Kabinettsmitglieder diese Maßregelung von der Staatsspitze her gefallen lassen oder sich vielmehr aufgefordert fühlen, dem Mann im Quirinal zu zeigen, wer Herr im Hause der italienischen Machtausübung ist, muß noch abgewartet werden. Daß sich Rumors Rückverweisung an die drei Regierungsparteien und schließlich an das Parlament zu einem Casus, ja zum Konflikt der Staatspräsidentschaft mit der Regierung oder gar dem Parlament auswirken könnte, ist angesichts des hohen Ansehens des Präsidenten weniger wahrscheinlich. Man braucht bei Leone auch kaum zu befürchten, daß er, aus Widerwillen gegen die Interessenpolitik der Parteien und fast

aller ihrer Vertreter, seine Befugnisse noch weiter ausdehnt, was übrigens angesichts der fast aussichtslosen Situation wenigstens zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit und zur Überwindung der Wirtschaftskrise sogar ein Segen sein könnte.

In Gewerkschaftskreisen herrscht jedenfalls der Eindruck vor, daß Carlis Rede über den baldigen „Finanztod“ der Nation nicht den Wahrheitsgehalt des Evangeliums aufweise, vielmehr mancher Abstriche und Korrekturen bedürfe. In seiner langen Amtsführung sah sich der Notenbankpräsident niemals von so vielen Leuten auf seiner Linken aufs. Korn genommen. Benvenut, Carnaiti und Trentin, die drei Großen der mächtigen Metallarbeitergewerkschaften, wittern hinter Carlis Kreditrestriktionen deflationistische Gefahren und eine Massenarbeitslosigkeit, die auch den größten Fußballfan zur Besinnung bringen müßte.

Carli und sefhen Hintermännern gehe es in Washington, Bonn und Zürich nur darum, Gewerkschaftsführern und Arbeitnehmern Sand in die Augen zu streuen. Aus lauter Angst vor Entlassungen und Be-triebsschließumgen müßten sie endlich gute Miene zum bösen Spiel der Steuerhinterziehungen am laufenden Band und der Kapitalflucht per Schiene, Straße und Flugzeug machen. Carli und seine „Rechtstrabanten“ wollten aber nicht nur die Linke, sondern auch noch die reichen Ausländer — Amerikaner und Deutsche — für dumm verkaufen. Statt in sich zu gehen und mit einer durchgreifenden Besteuerung nicht nur aller Lohnempfänger, sondern auch der Freischaffenden und der in Berufen und Verbänden Engagierten die Milliarden dort zu holen, wo sie leicht zu holen sind, stimmte Carli das Lied vom armen Mann an, dem geholfen werden müsse, damit das Vaterland nicht über einen Staatsstreich dem Neofaschismus, einem Bürgerkrieg oder der Volksfront zum Opfer falle.

Daß Carlis Hiobsbotschaft keinerlei taktische Erwägungen zugrunde liegen, dürfte kein Kenner des internationalen Währungsproblems behaupten. Notentbankpräsidenten sind keine Universitätsprofessorenj *'eM italienischer Notenbankpräsident wäre geradezu ein Pfuscher in seinem Amte, wenn es ihm nur um die Aufdeckung der Wahrheit ginge, hat er es doch bei seinen Landsleuten mit Menschen zu tun, die — wenn es ihnen nützt — noch mehr als die echten Basler das Gegenteil von dem sagen, was sie denken und jedenfalls mit allem, was sie sagen, ein bestimmtes Ziel verfolgen.

Werfen die Führer der Linksgewerkschaften Carli eine Art Spekulation mit dem nationalen Untergang vor, um beide — Arbeitnehmer und ausländische Geldgeber — gefügig zu stimmen und also gleich zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen, damit man, wenigstens vorderhand, weiterhin in Saus und Braus leben könne, so liegen nicht minder taktische Erwägungen dem von den Gewerkschaften an die Wand gemalten Schreckgespenst der Massenarbeitslosigkeit zugrunde. Die Erwägung nämlich, das Übel der Verschuldung nach Möglichkeit dem politischen Gegner und, am besten, den reichen Ausländern aufzuhalsen.

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