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RANDBEMERKUNGEN

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KLAGEN, NICHTS ALS KLAGEN, Bittschriften, nichts als Bittschritten — mit diesem klassischen Stoßseufzer Goethes mag die Redaktion des Zentralorgans der Sozialistischen Partei Oesterreichs die Zuschriften betrachten (und veröffent-lichen), die seit Wochen das Bemühen der Partei begleiten, wie in anderen Dingen so auch in ihrem Verhältnis zur Kirche mit sich ins reine zu kommen. Die neuerliche Krise der Konkordatsfrage und der neue Parteiprogrammenfwurf sind die Lüftchen, die dabei lustig ins Feuer blasen. Die Veröffentlichung der Zuschriften folgt dabei sichtlich einer wohldurchdachten Anordnung vom wüsten Anfiklerikalismus bis zur optimistischen Koexistenz und ist dabei ungewollt nicht weit von der tafsächlichen disparaten Stimmung innerhalb der Partei entfernt. So versichert in der Folge vom 15. März einer vom alten Schlag mit dumpf murrendem Unterfon, er könne „nicht glauben, dafj unsere sozialistischen Minister in der Regierung in der Antwortnote an den Heiligen Stuhl Zugeständnisse auch nur für die Zeit des Ueberganges bis zum Abschluß eines neuen Konkordats gemacht haben“. Nach Schema F folgten diesen herben Tönen aller Kampfeslust sanftere einer Frau (!), nach denen sich Kirche und Sozialismus „herrlich vereinbaren läht, wenn man den Grundgedanken von beiden (?) betrachtet“. „Bis jetzt allerdings“, so schlieft eine letzte Zuschrift, „steht dies nur auf dem Papier, in der Praxis sieht es noch immer so aus, dafj man von Kollegen, wenn man religiös ist, als .Schwarzer' hingestellt wird. Mit der sozialpolitischen Leistung und Arbeit der SPOe bin ich sehr zufrieden. Dagegen bin ich mit der religiösen Einstellung der SPOe noch nicht ganz einverstanden.“ — Wir auch nicht. Aber, was nicht isf, kann noch werden. Und eine freiere, noch freiere, ungetenkte Aussprache darüber könnte es fördern.

SELBSTKONTROLLE ist eine schöne Einrichtung, die der Willensfreiheit und geistigen Reife in den modernen Demokratien ein gutes Zeugnis ausstellt. Ein Ministerkomitee hat sich dieser Tage mit Maßnahmen zum Schutze vornehmlich der Jugend vor dem verderblichen Einflufj bestimmter Filme befaßt und neben anderen Empfehlungen auch die einer Selbstkontrolle der Filmwirtschaft gegeben. Die beiden Fachverbände (Produkfion-Verleih und Lichtspieltheater) haben die Anregung im ganzen zustimmend aufgegriffen und Verhandlungen eingeleitet. Auch die haupfbetroffenen amerikanischen und kleinen Verleiher, an deren Widerstand vor fünf Jahren der schon damals festumrissene Plan gescheitert ist, scheinen nunmehr nachgegeben zu haben. Noch sind einzelne Schwierigkeiten da. Sie sind nicht unüberwindlich. Die Kosten der Einreichung und Begutachtung können in engen Grenzen bleiben, wenn man bedenkt, daß nicht mehr als fünf bis acht Prozent des Gesamtanlaufs, das sind selbst bei strengsten Maßstäben höchstens 25 bis 40 Filme im Jahr, als „Grenzfälle“ geprüft zu werden brauchen. Auch über die Zusammensetzung eines arbeitsfähigen Gutachfenforums (nicht eines bürokratisch-proportionalen Wasserkopfes) müßte man sich einig werden können. Dem deutschen Nachbarn, der, abgesehen von der Panne um die „Sünderin“, bisher weise amtiert hat und erst dieser Tage wieder durch die Distanzierung eines Frankfurter Dirnenfilms ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben hat, könnte man manche Erfahrung abspitzen, ohne ihn sklavisch nachzuahmen. — Für das vielverästelfe Jugendproblem im ganzen bedeutet freilich auch die Filmselbstkontrolle allein keine Patentlösung. Dazu mühten noch andere, unorganisierte „Selbstkontrollen“ treten — die der Boulevardpresse beispielsweise, die sich mehr Zurückhaltung in der Blut- und Bodensatzberichferstaffung auferlegen könnte, und nicht zulefzt der Väter und Mütter, die in stabilen, sauberen Ehen, in denen die Frau — Frau und Mutter und nicht Aufbesserin der uferlosen Luxusaufwände ist, die Generalsanierung der Jugend einleiten könnten. *

DIE RECESSION. Monatelang haben amerikanische Politiker und Psychologen beraten über den Namen eines Kindes, das lange vor seiner Geburt bereits seine Schatten vorauswarf: wie sollte die Krise heißen, die Depression, die da am Dollarhimmel heraufzog? Nun, das Kind hat seinen offiziellen Namen, „Recession“ (so etwa wie man Kriegsversehrte statt Invalide sagte), es hat aber noch nicht Väter gefunden, die sein Wachstum sicher einzudämmen wissen. Schlichte, erregende Tatsachen am Vorabend einer Reihe von Gipfelkonferenzen des Westens mit den Sowjets: die USA haben 5,2 Millionen Arbeitslose, auf den westdeutschen Halden häuft sich die unabsetzbare Kohle, die Schiffe liegen leer, und die deutsche Stahlindustrie sfeht vor einem Streik. In Amerika ist man sich noch nicht klar über die geeigneten Mittel zur Bekämpfung der „Recession“. Nixon, der Vizepräsident, hat es bisher als einziger von den führenden Politikern gewagt„ für eine rasche Steuerermäßigung und dadurch Stärkung der Kaufkraft der Bevölkerung einzutreten. Das Gros der Wirtschaftsberater beider führenden Parteien frift für vorsichtige Steigerung der staatlichen Arbeitsaufträge und ebenso vorsichtige Förderung der privaten Aktivität ein. Man weifj eben nicht, trotz jahrzehntelanger Sfudiern der Finanzwirfschaff über die „Gesetze“ der Krisen und Konjunkturen, wie das heute wirklich in einem Grofjkörper wie der amerikanischen Wirtschaff funktioniert, wenn man da größere oder kleinere Einspritzungen macht. Die Reaktion des Volkes, des Publikums, der Konsumenten und Produzenten ist von vielen anderen Faktoren mit abhängig, die mit der Wirtschaff an sich nur indirekt zu tun haben: es geht, kurz gesagt, um das Kapital an Vertrauen, das durch das Volk in der jeweiligen Regierung investiert wird. Nun haf die Regierung Eisenhower in den letzten Jahren sehr viel von diesem Kapital bereits verbraucht. Die Republikaner sind in einer Engpaßlage angelangt, die politisch folgende Konsequenzen nach sich zieht, wie eben die „New York Times“ ansagt: die Republikaner, lange, bittere Gegner einer Gipfelkonferenz, sind in zunehmendem Maße zu Anhängern einer Gipfelkonferenz in diesem Jahre geworden, da sie sich von ihr eine Ablenkung des öffentlichen Interesses von den inneren Schwierigkeiten versprechen, was wichtig ist, da Herbsfwahlen zum Senat und Repräsentantenhaus vor der Türe stehen. John Foster Duiles' aufsehenerregende Manila-Rede mit ihrem Einverständnis zu einer baldigen Gipfelkonferenz mit dem einen Thema „Abrüstung“ erhält von hier einen starken realistischen und parteipolitischen Akzent...

DIE WAHLEN ZUM OBERSTEN SOWJET. Die soeben abgeschlossenen Wahlen in der Sowjetunion sind die fünften, seitdem 1936 der Oberste Sowjet an die Stelle des früheren „Exekutivkomitees der Arbeiter-, Bauern- und Soidateh-depufierten“ trat. Wer die Nominierung Chruschtschows in hundert Wahlbezirken, die Zurücksetzung aller anderen führenden Persönlichkeiten des Sowjetstaates bereits in der Reihung und Zahl ihrer Kandidaturen, wer dazu noch die Propaganda und die Durchführung dieser „Wahl“ vergleicht, mag sich deutlich an Stalins Tage erinnert fühlen. Diese Konstante ist in dem mächtigen Riesenreich, das um seine Kontinuität ringt, einfach gegeben: es wäre, von seifen der sowjetischen Führer, Selbstmord, diese Kontinuität aufheben zu wollen. Neben ihr steht aber auch ein anderes Element, das man vorsichtig als evolutionär bezeichnen darf. Wohl sind auch diesmal nur Kandidaten einer Einheitsliste, des „Blocks der Kommunisten und Parteilosen“, den Völkern der Union präsentiert worden, die Vorgänge der letzten Monate und Wochen zeigten aber, daß hinter den Kulissen ein erbittertes Ringen um viele Kandidaten stattfand: Spiegel der konkreten Auseinandersetzungen der verschiedenen Schichten und Stände, die um politischen Einfluß ringen. Es haffe also durchcus Sinn, daß amerikanische Parlamentarier die Einladung der Sowjets zur Beobachtung der Wahlen annahmen: für den Sachkenner läßt sich da, wie auch aus der aufmerksamen Lekfüre der sowjetischen Presse, bedeutsames Material über die gegenwärtige Struktur der sowjetischen Gesellschaff gewinnen. Am interessantesten für das Ausland sind aber wohl zwei Phänomene: Der Staatschef Chruschtschow hat diese Wahl offensichtlich auf die Gewinnung von zwei großen Bevölkerungsschichfen abgestellt, denen Stalin bitter wenig Rücksichtnahme zugestand: auf die Frauen und die Bauern, In seiner aufsehenerregenden Wahlrede in Minsk anerkannte Chruschtschow die Kritik westlicher Beobachter an der harten Arbeit der sowjetischen Frauen und versprach den Frauen der Sowjefunion, sie so bald als möglich von den härtesten Handarbeifen in Bauhandwerk, Fabrik und Bodenmeliorisation zu entlasten. Der neue Oberste Sowjet ist ferner bereits als ein „Bauernparlament“ angesprochen worden: doppelt so viele Kolchosevorsifzende als früher ziehen als Abgeordnete in den Sowjet ein, während die Zahl der Abgeordneten aus Armee und Polizei auf die Hälfte gesunken isf und sogar die Indusfriemanager zurücktreten mußten. Chruschtschow weiß, daß, wer die Bauern gewinnf, die Zukunft gewinnt. Auf die Bauern dtr Sowjefunion schauen die Bauern Chinas, Indiens, Asiens und Afrikas. Die fünften Wahlen zum Obersten Sowjet zeigen eine neue Stärkung seiner Macht. Ihre Auswirkungen wird man bei den Weltkonferenzen der nahen und fernen Zukunft zu spüren bekommen.

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