6672923-1961_08_05.jpg
Digital In Arbeit

An den Rand geschlieben

Werbung
Werbung
Werbung

ABSTIEG VOM SEMMERING. Es kam, wie vorausgesehen und voraus- gesagf. Die Semmeringtagung 1961 der ersten Regierungspartei stand ganz im Zeichen des bevorstehenden Rücktritts von Bundeskanzler Raab. Dafi dieser buchstäblich in letzter Minute seinen Zeitplan noch einmal umstiefi und nunmehr statt am 14. März am 11. April dem Bundespräsidenten seine Demission zu geben beabsichtigt, ändert nichts an dem von uns bereits in der vergangenen Woche ausgiebig kommentierten Ereignis. Im Chor, der den Wechsel am Ballhausplatz begleitete, fiel die gute, ja man kann beinahe sagen freundliche Aufnahme des kommenden Bundeskanzlers beim Koalitionspartner auf. Wenn dies ein Anzeichen dafür ist, dafi künftighin der „Regierungsmechanismus” wieder reibungsloser und flotter funktionieren wird, sollte es eigentlich allen recht sein, über das Gesicht des Kabinetts Gorbach ernsthaft zu sprechen, ist wohl mehr als verfrüht. An den zur Zeit kolportierten privaten Ministerlisten fällt auf, dafi eine gewisse weit rechtsstehende „Vendetta", die bis in manche bürgerliche Blätter reicht, die zu erwartenden und auch zu bejahenden Veränderungen in den Ministerien der Volksparfei auch auf die Staatssekretäre ausgedehnt sehen will. Vor allem Staatssekretär Grubhofer können sie seine beispielgebend offen ausgesprochene staafspolifische Gesinnung nicht verzeihen. Sie sehen ihn lieber heute als morgen aus dem Innenministerium scheiden. Ein Grund mehr dafür, um dem geradlinigen Vorarlberger öffentlich das Vertrauen auszusprechen.

SYNODE DER BEREITSCHAFT. Einen „Zwingberrn" zur Einheit nannte Fichte einst Napoleon, weil seine Politik wider Willen die bislang nur in der Idee vorhandene deutsche Nation zusammengefügt hatte. Der ihm ansonsten kaum besonders ähnliche Ulbricht hat — bestimm) auch wider Willen — bei der Ratstagung der evangelischen Kirche Deutschlands, die sich, eine der letzten noch bestehenden gesamtdeutschen Veranstaltungen, in Ost-Berlin versammelte, Ähnliches geleistet. Die will-

kürliche AVssßärratttj ' 'ilmifilfcBläer ' Synodalen düs der Bundesrepublik, die an der Berliner Sektorengrenze vorgenommen wurde, hat selbst Kirchenmänner wie den um eine direkte Verständigung mit dem Zonenregime bemühten Professor Vogel und den bedeutendsten „Linken", Professor Heinemann, erschüttert. Das bisherige Haupt der deutschen evangelischen Christen, Bischof Dibelius, der Ratsvorsitzende, nahm mit einer mahnenden Rede, die sich an den Saekula- rismus des Westens in gleich entschiedener Weise richtete wie an die Freiheifsfeindlichkeit des Ostens, Abschied. Die feierliche Schwere dieser Stunde wurde allen Synodalen be- wufif, als der in der Zone wirkende Bischof Krummacher das Gelöbnis für alle Anwesenden sprach: die deutsche evangelische Kirche wolle und werde, was immer auch politisch geschehe, unter dem Evangelium zusammenbleiben. Dann ging man an die Neuwahl des Rafsvorsitzenden. Sie fiel auf einen Kirchenmann, der seil 1945 in Ost-Berlin ein aufrechtes Zeugnis leistet — nachdem er für das gleiche Zeugnis unter der Naziherr- schaft Verfolgung gelitten hatte: Präses Scharf, der im kommenden Jahre wohl auch Nachfolger von Dibelius im Berlin-Brandenburger Bischofsamt sein wird. Man hat den Schritt in die vorderste Front gewagt und den prominentesten Politiker der evangelischen Kirche, Bischof Lilje, nur zum Stellvertreter gewählt, weil man bereit ist, der alten Sitte gemäfi, die Fahne mitten in die Schlacht zu werfen.

NEUWAHLEN IN BELGIEN. Wir schlossen unseren Kommentar über die Unruhen in Belgien im Jänner mit dem Hinweis darauf, dafi nur Neuwahlen die innenpolitische Situation klären können. Nun ist es soweit. Ende März wird Belgien wählen, wie Ministerpräsident Eyskens eben nach dem Rücktritt der liberalen Minister be- kannfgab. Uns interessieren weniger die wahlfaktischen Streifigkeiten zwischen Eyskens und seinem engeren Anhang einerseits und den Liberalen anderseits als d'e europäischen und weltpolitischen Perspektiven der belgischen Krise, die hierzulande bedeutungsvoll „übersehen" werden. Belgien befindet sich heute in einer Situation, die in manchem der Österreichs nach 1918 vergleichbar ist. Nach dem Verlust eines Weltreiches suchen mehr oder minder gewiegte Taktiker und Parfeisfrategen, und einige Radikale, die Lage zu meistern. Für Österreich beaannen damals die Jahre der unschönen Täu

schungen. Stehen solche auch in Belgien bevor? Es wird sich bald zeigen, ob dort das mächtige Grofi- bürgertum wirklich etwas gelernt hat oder ob es glaubt, wieder alles zu seinen Gunsten „arrangieren” zu können. Ein Teil der Christlichsozialen strebt eine „grofie Koalition" mit den Sozialisten an. Ähnlich wie in Italien versuchen starke, vornehmlich in der Wirtschaft verankerte Kreise, diese „Öffnung” zu verhindern. Die Zeche müfite auf die Dauer das ganze Volk und die Demokratie bezahlen. Die innenpolitischen Kämpfe in Belgien verdienen also nicht nur von seifen der EWG-Part- ner, sondern von Seiten aller Freunde der Freiheit stärkste Beachtung. Die Männer, die im Trüben fischen wollen, sind bereits auf dem Plan. Nur in Belgien?

FLUGSAMEN DER FREIHEIT. Ganz Lissabon war auf den Beinen, um die heimgekehrfe „Santa Maria" zu be- grüfien. Der Sfaatschef Salazar überwand seine Scheu vor dem Volke und hielt auf dem Kai eine Ansprache, die aus einem Satze bestand: „Die Santa Maria ist wieder unser — ich danke euch, Portugiesen". Das Volksfest um die heimgekehrte Santa Maria zeigt, wie lief das Volk Portugals innerlich aufgewühlt worden ist durch die „Aktion Santa Maria". Nicht nur das Volk: Jetzt zeigt sich nämlich, dafi Humberto Delgado und Henrique Galvao mit ihrem Streich genau das erreichten, was sie wollen: die Regierung zu beunruhigen und darauf aufmerksam zu machen, dafi es so einfach nicht mehr weitergeht. Auf die Vorsprache einiger Männer bei Salazar hin wurde es jetzt zum erstenmal in der Geschichte des Regimes der staatlich kontrollierten Presse erlaubt,

eine gemeinsame Erklärung von Gegnern Salazars zu veröffentlichen, die scharfe Kritik an den „autokratischen" Methoden seiner Regierung üben. Es handelt sich hier um eine Gruppe, der mehrere Dutzend führende Anwälte, Ärzte, Professoren und andere Angehörige freier Berufe angehören. Ihr Manifest bezeichnet die Affäre der „Santa Maria" und die Zwischenfälle in Angola als Auflösungserscheinungen, die eine unhaltbare Situation enthüllten. — Vorzeitig wäre es, hieraus auf eine Liberalisierung oder bereits auf einen bevorstehenden Übergang von einer autoritär-patriarchalistischen Ordnung zu einem freiheitlichen Regime zu schliefien. Dieses Manifest zeigt jedoch, wie die letzten Denkschriften spanischer Professoren, dafi die ganze Pyrenäenhalbinsel langsam im Aufbruch ist: zur „Integration in Europa”. Wenn dieses ominöse Schlagwort nämlich einen guten Sinn haben soll, dann kann es nur bedeuten: Integration in äufierer und innerer Freiheit.

DIE UNO NACH LUMUMBA. Das schwarze Afrika hat seinen Märtyrer. Wir Europäer und Mitglieder der freieren Hemisphäre haben diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung stellen. Da ist zunächst der Kampf in der UNO: hier wird sich sehr bald zeigen, wieviel Moskau die Verständigung mit Washington wert ist. Kennedy ist fest entschlossen, Hammarskjöld, dessen Kopf der Ostblock fordert, nicht aufzugeben, zumindest in diesem Augenblick nicht, und möchte den Kongo nicht in ein zweites Korea verwandelt sehen. Dies ist nicht zuletzt wichtig für Frankreich, das vor den Verhandlungen mit den Algeriern steht. Diese können nur in einem nicht kongoisierten Afrika beginnen. Man hat in den letzten Tagen sich mehrfach die bange Frage gestellt: werden die Sowjets die UNO jetzt auffliegen lassen und in einem Exodus sprengen? Den Chinesen wäre ein solcher Schritt, so scheint es, willkommen. Die harten Auseinandersetzungen in der UNO, bei denen sich der neue Repräsentant der USA, Stevenson, vorzüglich schlägt, ruhig, klar, ohne je die Nerven zu verlieren, zeigen jedoch eben dies: das Forum der hundert Nationen ist gerade für die Russen und ihre Mitsprecher eine unersetzliche Gelegenheit, ihre Forderungen und sich selbst der Welf darzusfellen. Die Russen sind ja, und sie wissen dies selbst am besten, noch lange nicht so weit, dafi sie den Völkern Asiens, Südamerikas und Afrikas so direkt und so global ihre Meinung kundtun können, wie hier in der UNO.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung