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Der schottische Schatz

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Über das schottische Hochland, eine der schönsten und abgelegensten Gegenden Großbritanniens, und die stillen schottischen Inseln bricht eine Entwicklung herein, die einer industriellen Revolution gleichkömmt: der Ölboom in der Nordsee führt zu sozialen Veränderungen,in einem Gebiet, das bisher von der Industrie kaum berührt wurde.

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Über das schottische Hochland, eine der schönsten und abgelegensten Gegenden Großbritanniens, und die stillen schottischen Inseln bricht eine Entwicklung herein, die einer industriellen Revolution gleichkömmt: der Ölboom in der Nordsee führt zu sozialen Veränderungen,in einem Gebiet, das bisher von der Industrie kaum berührt wurde.

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Die ersten Erdölfunde wurden 1966 gemacht, aber erst 1969 begann mit der Entdeckung größerer Vorkommen der eigentliche ölboom, von dem man sich jetzt vor allem im Hinblick auf das Energieproblem eine Lösung erhofft: man erwartet, daß nach 1980 etwa die Hälfte des britischen ölbedarfs mit Nordseeöl gedeckt werden kann. Die Ausbeutung, die mit aller Kraft vorangetrieben wird, ist mit entscheidenden Wandlungen für die Bewohner der schottischen Highlands verbunden.

„In diesem Landstrich gibt es so gut wie keinen sozialen Streß und keine echte Kriminalität — das könnte jetzt alles anders werden“, meint Edward Thomason aus Lerwick auf den Shetland-Inseln zu der Frage, ob der materielle Segen, den der ölboom beschert, die sozialen Nachteile aufwiegt.

Einige Bewohner des Hochlandes wie Ken Humphries aus dem kleinen Städtchen Nigg an der schottischen Nordostküste hingegen sehen in dem kommenden ölreichtum eine Rettung aus der Not: „Die Hochländer, die bisher gezwungen waren, das Land zu verlassen oder sich mit völlig unbefriedigenden und unterbezahlten Arbeiten zu begnügen, haben jetzt ganz neue Möglichkeiten. Nach 250 Jahren des Niedergangs, der Vernachlässigung, der Ausbeutung, erhalten sie endlich eine Chance, ihr Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen.“

Auf das schottische Hochland entfällt rund ein Fünftel der britischen Landmasse, doch nur ein halbes Prozent der gesamten Bevölkerung. Die heidebedeckten Berge ernähren bei all ihrer Schönheit nur sehr wenige Menschen. Anfang des 18. Jahrhunderts führten zwei Aufstände gegen London zu blutiger Vergeltung und zu massenhafter Auswanderung.Knapp 50 Jahre danach verdrängten die mächtigen Schafzüchter die Kleinbauern aus den Tälern, was zu einer neuen Emigrationswelle führte. Später wurde der Bevölkerungsschwund paradoxerweise durch eine an sich positive Tatsache fortgesetzt: bis vor kurzem war das schottische Schulsystem dem englischen so überlegen, daß die Söhne und Töchter der Kleinbauern und Fischer mit größter Selbstverständlichkeit die Universität besuchten. Nach dem Studium aber mußten sie feststellen, daß keine entsprechenden Arbeitsplätze zur Verfügung standen, woraufhin sie ebenfalls auswanderten. Erst in unserem Jahrhundert konnte diese Entwicklung durch die Ansied-lung von Industrien — allerdings fast ausschließlich an der Ostküste — zum Stillstand gebracht werden, und vor zwei Jahren blieb die Bevölkerung zum ersten Mal seit 130 Jahren auf dem gleichen Stand.

Und jetzt kommt der ölboom. Früher blickten die hohen Steilküsten auf einen herrlichen Strand mit Dünen herab, jetzt ragen dort riesige gelbe Bohrtürme und Bohrinseln, gewaltige Maschinen und Lagerhäuser auf.

In Nigg wurde das größte Unterwasser-Trockendock der Welt gebaut; dort entstehen riesige Beton-Plattformen für die ölfeider. Auf der Werft sind 1300 Arbeiter beschäftigt, etwa doppelt so viele, wie man im Umkreis von 30 Kilometern finden konnte. Das bedeutet zwar eine Behebung des Arbeitslosenproblems, aber es schafft auch neue Engpässe. Mehrere hundert Arbeiter müssen an Bord eines Schiffes im Hafen wohnen. In ihrer Freizeit langweilen sie sich. Ihr Geld können sie fast nur für Alkohol ausgeben, und wenn sie betrunken sind, kommt es zu Schlägereien und anderen Ausschreitungen. Die letzte Einheimische, die es noch in dem Dorf ausgebalten hatte, mußte erleben, wie ihr Haus von betrunkenen Bauarbeitern in Brand gesteckt ■ wurde.

Dies alles steht in einem krassen Gegensatz zu dem bisherigen Leben in den Highlands, wo die presbyte-rianische Kirche noch immer eine sehr wichtige Rolle spielt. Der große Einfluß der Kirche und die engverflochtene Sozialstruktur der meisten Dörfer hatte bisher dafür gesorgt, daß Prostitution fast unbekannt war. Die Polizei mußte verstärkt werden, um mit den zahlreichen Diebstählen fertig zu werden und zum ersten Mal in ihrem Leben müssen die Bewohner jetzt ihre Autos abschließen.

Die Baugesellscbaften zahlen hohe Löhne und entziehen den traditionellen örtlichen Erwerbszwecken damit Arbeitskräfte. Ein Bauer aus der Nähe von Nigg wußte nicht, wie er seine Ernte etobringen sollte.

Andere Leute können plötzlich in ihren Gärten kein Gemüse mehr anbauen, weil der Grundwasserspiegel gesunken ist, seit das riesige Loch für das Trockendock gegraben wurde. Jungverheiratete wiederum finden keine Häuser, weil die wenigen,die es noch gibt, unerschwinglich geworden sind. Dennoch scheinen die meisten Ansässigen für das öl zu sein, das vielen von ihnen zum erstenmal Arbeit beschafft hat.

Den Ölquellen am nächsten sind die Shetlands, eine Gruppe von rund 100 Inseln, gut 160 Kilometer nördlich des Festlandes gelegen. Etwa 20 dieser Inseln sind bewohnt. Auch sie bleiben vom „Segen“ des Fortschritts nicht verschont. John Graham aus der Inselhauptstadt Lerwick sieht die Gefahr für die Shetlands so: „Wir haben eine relativ kleine Bevölkerung von rund 18.000 Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte ein integriertes Gemeinschaftsleben aufgebaut haben, das sehr eng mit der Wirtschaft der Inseln verknüpft ist, also mit Ackerbau und Fischfang und Strickwarenherstellung. Und diese Wirtschaft funktionierte schon vor der Entdeckung des Öls ausgezeichnet. Unsere Gemeinschaft ist geprägt von einem echten Nachbarschaftsgeist. Wer Hilfe braucht, dem wird automatisch geholfen, ohne daß man eine Belohnung erwartet. Wir schließen unsere Türen und Autos nicht ab. Und jetzt sind wir plötzlich gezwungen, mißtrauisch zu sein.“

Anderer Ansicht ist Michael Stansbury, der für die Entwicklung der Shetland-Inseln zuständige Beamte. Ob mit oder ohne öl, das Inselleben werde sich ohnehin unweigerlich ändern, sagt er. Die Funde in der Nordsee würden diesen Wandel lediglich beschleunigen. Vor allem aber sieht Michael Stansbury in der Ölindustrie eine Chance, die Shetländer zurückzubringen, die die In-f :1 verlassen haben. Er meint: „Wir haben oft gesagt, unser größter Exportartikel sei unsere Intelligenz.Jetzt aber besteht die Möglichkeit, daß emigrierte Shetländer zurückkehren, weil durch die ölgesellschaf-ten und vor allem durch die Anschlußindustrien Arbeitsplätze geschaffen werden, die hohe Qualifkationen erfordern und die es vorher nicht gab.“

Immer wieder tauchen in Leserbriefen an die örtliche Presse Warnungen auf. Warnungen vor den Gefahren für den Fischfang durch Meeresverschmutzung, Warnungen vor einem Rückgang der Wollindustrie durch Arbeitekräftemangel, Warnungen vor einem Verfall der Landwirtschaft durch den Verlust von kostbarem Boden an die ölgesellschaf-ten, und nicht zuletzt Warnungen vor dem Ausbleiben der Touristen. Schließlich ist auch noch ungeklärt, wie die medizinische Versorgung, die Schuien und das Straßennetz mit dem Zustrom der Bauarbeiter fertig werden sollen.

Ein genaues Abwägen der Vor- und Nachteile ist nicht möglich, wie Professor Donald Mackay von der Universität Aberdeen ausführt: „Vor allem darf man nicht die hohe Arbeitslosigkeit in Schottland vergessen, für die es jetzt eine Lösung gibt. Vielleicht sind die Auswirkungen des ölbooms tatsächlich nur von kurzer Dauer. Aber lieber Wohlstand für zehn Jahre und danach gar nichts als die ganze Zeit über gar nichts. Wenn es eine einfache Alternative gäbe, die für 20 oder'30 Jahre hohe Einkommen und feste Arbeitsplätze garantierte, dann würde ich sie vorziehen. Aber was für Alternativen haben wir schon?“

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