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Niemand denkt an Jakko...

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Vor einigen Wochen teilte das russische Pressebüro TASS mit, daß die Sowjetunion nicht nur das moralische Recht, sondern im Interesse des Weltfriedens auch die Pflicht habe, der letzte Staat zu sein, der seine Kernwaffen erprobe. Wohl nirgendwo in der Welt wurde diese Mitteilung mit SO großer Bestürzung aufgenommen wie im äußersten Norden Europas. Bedeutet eine neue Serie von russischen Atomsprengungen für die übrige Welt eine Erhöhung der politischen Spannung und eine zusätzliche Vergiftung der Atmosphäre — Erscheinungen, die an und für sich schlimm genug sind! —, so kann sie für das kleine Nomadenvolk im Norden das Todesurteil und den Untergang bedeuten, denn: im Todesschatten der Superbomben kann es nicht leben!

Bis zum ersten Weltkrieg gab es in diesem Teil der Welt keine Landesgrenzen. Das einzige Gebot, dem man folgte, war das der Jahreszeit. Kam nach dem harten Winter der Frühling, dann zogen sie mit ihren Rentierherden in das Hochland; im kurzen, heißen Sommer weideten sie auf den baumlosen Kahlflächen des Hochgebirges; wenn es kühl wurde und die Mückenplage geringer, zog man wieder in das endlose Waldland der Niederungen. Die Generationen kamen, gingen und starben. Die Männer hielten die Herden zusammen und jagten den Wolf und den Vielfraß; die Frauen kochten das Rentierfleisch über nie verlöschenden Feuern, räucherten die Fische und brachten unter flatternden Nordlichtern ihre Kinder zur Welt. Das Leben war einfach, und die Welt war unendlich groß. Nun ist alles anders geworden, beängstigend, unbegreiflich und voll von neuen Gefahren!

Für den Mitteleuropäer ist das Gebiet nördlich des 65. Breitengrades die fast menschenleere Wildmark, die „große Einsamkeit“. Die Wahrheit aber ist, daß die rentierzüchtenden Samen keinen Platz mehr haben; jedenfalls haben die meisten dieser paar tausend Menschen heute dieses Gefühl, und darauf kommt es ja wohl an.

Man schreibt soviel über die Wölfe, und es ist gar nicht schwierig, in einer Zeitung in Mitteleuropa eine bluttriefende Wolfsgeschichte oder eine Story von einem kinderraubenden Königsadler unterzubringen. Ein im Norden stationierter Pressekorrespondent gerät in den Verdacht der Un-zuverlässigkeit, wenn er nicht wenigstens jedes Jahr eine Schauergeschichte solcher Art berichtet. Von den phantasiebegabten Touristen wollen wir hier gar nicht reden. Die Wölfe ziehen immer! Von der Ersenbahn spricht niemand!

Und doch tötet mitunter die Lokomotive eines einzigen Erzzuges mehr Rentiere, als alle Wölfe Lapplands zusammen in einem ganzen Winter umbringen können. Hunderte hilflose Tiere auf einmal kann eine zwischen hohen Schneewällen dahinrasende Lokomotive massakrieren, bevor sie zum Halten gebracht werden kann!

Die Eisenbahnverwaltung bezahlt den Schätzwert der Tiere „mit einem Almosen“, sagen die Lappen, denen ein wertvolles Zucht-, Zug- oder Leittier um keinen Betrag, feil ist. Doch die Schadensersatzsumme wird von einem Beamten in Stockholm berechnet, der vielleicht noch nie ein Rentier gesehen hat, und sie basiert auf einem sehr niedrigen Fleischpreis. Und doch hat die Eisenbahnverwaltung in den letzten sechs Jahren mehr als eine Million Kronen für überfahrene Tiere bezahlen müssen.

Die zweite große Bedrohung entsteht aus der Regulierung der Flüsse und Seen zum Zweck der Gewinnung elektrischer Energie. Darüber wurde bereits oft geschrieben, und wir können uns hier auf den Hinweis beschränken. Im Vorjahr konnten die Naturschutzverbände mit der staatlichen Wasserfallgesellschaft ein Abkommen schließen, das die Erhaltung des dritten Teils der umstrittenen Wasserfälle im Urzustand sichern soll. Aber zwei Drittel werden auch nach diesem Abkommen weitgehend verändert werden. Alte Wanderwege werden überflutet, Flußtäler versumpft oder trockengelegt, das schmale Weideland längs der Flüsse wird verschwinden. Wovon sollen dann die riesigen Herden auf ihren Wanderungen leben?

Im Herbst 1961 tauchte dann jene ungeheure Bedrohung am Horizont auf,die alles andere bedeutungslos erscheinen ließ: die Gefahr der Vergiftung durch radioaktive Niederschläge, denen gerade die Rentiere und die Lappen, die von ihnen leben, in großem Ausmaß ausgesetzt sind!

Bei ihrer Suche nach Futter streifen die Rentiere riesige Flächen ab und wählen mit Vorliebe solche Flechtenarten, zu deren Eigenheiten es gehört, einfallende Niederschläge besonders lange aufzuspeichern. Durch die Milch und durch das Fleisch der Tiere gelangen diese zersetzenden Stoffe in die Körper der Menschen. Auch das offen fließende oder stehende Wasser wird im hohen Norden am schnellsten verseucht. Als dies bekannt wurde, ging die Nachfrage nach Rentierfleisch katastrophal zurück. In Nordfinnland erlebten die Rentierzüchter die bittersten Monate seit vielen Jahrzehnten;all ihr Reichtum war plötzlich wertlos, ja gefürchtet und gefährlich geworden. Diese bittere Erfahrung hat ihre Spuren gesetzt.

In der Radiophysischen Station der Karolinska in Stockholm stellte man durch genaue Messungen fest, daß die Lappen tatsächlich stärker durch den radioaktiven Niederfall getroffen worden waren als die Menschen in südlicheren Gegenden. Nun sagt man zwar gleichzeitig, daß mit großer Wahrscheinlichkeit die festgestellten Mengen radioaktiver Stoffe keine Gefahr darstellen und daß sie weit unter der zulässigen Menge liegen, doch diese beruhigenden Erklärungen hatten nach der erstgenannten Feststellung eine nur geringe Wirkung. Professor Rolf Siebert von der Radiophysischen Institution erklärte, daß die Lappen durch die besonderen Umstände im Norden in eine verzweifelte Lage gekommen waren. Wer nur gelegentlich Rentierfleisch verzehre, habe sicher nichts zu befürchten. Ein Fragezeichen aber blieb auch da. und da die Forscher bekanntlich oft sehr verschiedener Auffassung sind, blieb das Mißtrauen bestehen.

Nach der langen Bombenserie bei Novaja Semlja kam die höllische Illumination des Himmels durch die Amerikaner im südlichen Stillen Ozean; nach diesem Feuerwerk kam die russische Erklärung, daß man das Recht habe, in dieser Runde die letzte Karte auszuspielen. Eine weitere Bombenserie im Norden kann das Ende des kleinen Nomadenvolkes bedeuten. Neue Superbomben können das Leben in den freien Weiten unmöglich machen, wenn man alle Nahrung direkt oder indirekt einem immer stärker verseuchten Boden entnehmen muß. Jeder Mensch im Norden muß mit dieser Möglichkeit rechnen!

Schon jetzt beginnen sich die kleinen und kleinsten vorgeschobenen An-siedlungen Nordfinnlands zu entvölkern. Am Sevettijärvi standen schon zu Beginn des Jahres von 60 vom finnischen Staat mit vielen Kosten'erbauten Hütten zehn Stück leer; heute werden es schon mehr sein. Vor allem die jungen Leute fliehen nach dem Süden.

Der schwedische Rentierbesitzer Anders Blind in Svaipa bei Arjeplog will mit 1200 Rentieren nach Grönland auswandern. Den dänischen Behörden liegen Gesuche um Aufnahme von Rentierherden und Samen in Island vor. Vor einigen Jahren hat man 300 Rentiere nach Grönland eingeführt, die sich gut akklimatisiert haben; heuer wird man zum erstenmal 300 Tiere von der stark angewachsenen Herde schlachten können. Doch solche Experimente können von Privatpersonen nicht durchgeführt werden, da eigene Schiffe gechartert werden müssen, was kein Lappe bezahlen kann. Also doch Untergang?

Island läßt einzelne Menschen einwandern, hat aber noch keine Weideerlaubnis für größere importierte Herden erteilt. Die Überführung nach Grönland kommt zu teuer. Wie sollen Anders Blind und Jakko und Illipi aus den Wäldern um den Enaresee diese Gelder aufbringen. Und was sollen sie mit den alten Leuten tun, die sich nicht mehr verpflanzen lassen?

„Wir hatten unsere alten Sitten, unsere eigene Sprache, und wir wähl-tenen unsere eigenen Führer“, sagte der alte Jakko bei Iijärvi. — „Unsere kleinen Streitigkeiten ordneten wir selbst. Was Krieg war, wußten wir nicht — unsere Sprache hat kein Wort für Krieg! — Doch nun ist es Schluß damit! Wir sind die Letzten! Die Zeit des Nomadenvolkes ist vorbei. Alle denken nur an ihre Macht und Größe, keiner denkt an uns — niemand denkt an Jakko! Nun wissen wir, daß unsere kleinen Völker sterben müssen!“

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