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Kleine Saison in der Wildnis

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WENN NICHT SHELLY, Sergeant der Royal Canadian Mounted Police, von der „Saison Wilder Westen“ erzählt hätte, mir wäre es vielleicht nicht so rasch aufgefallen. Es ist doch heute auf der ganzen Welt das gleiche: Das Geschäft bekommt alles in seinen Griff. Besonders die Ströme der Ferienreisenden und „Rasenden“ wollen gelenkt werden; sie bringen mächtige Gewinne.

Was war doch der Wilde Westen noch vor Jahrzehnten für eine erregend abenteuerliche Angelegenheit! Die heftigsten Träume in unserer Jugendzeit haben die Sehnsucht geweckt nach jenen Gestalten, nach jenen Abenteurern, die im Wilden Westen lebten.

Und eines Tages steigt man dann aus dem noblen, chromblitzenden Fernzug, der die Ostküste mit der Westküste des riesenhaften amerikanischen Kontinents verbindet. Es ist eine kleinere Station mit einem indianisch klingenden Namen, wo man, wie uns gesagt wurde, noch etwas vom Herzschlag des sagenhaft gewordenen Wilden Westens spürt.

Tatsächlich sahen wir wie Schemen aus der Vergangenheit einige Rothäute in vollem, prächtigem Federkronenschmuck aus der hinter der Station beginnenden Prärie herüberreiten. Im Nu waren alle Zweifel vergessen. Die vier Häuptlinge — es waren Osagas und Irevoys — ritten auf ihre Wigwams zu, die wir erst jetzt am Ufer eines Wildwassers entdeckten. Wir gingen ihnen nach, und einer von ihnen kam uns freundlich entgegen. Er reichte uns die Hand, lud uns ein, sein Wigwam zu besuchen, wo einige Squaws damit beschäftigt waren, die Schminkfarben zuzubereiten.

Big Chief, der Herr der Wälder, rauchte mit uns eine Old Gold. Und mit den blauen, dichten Rauchwölkchen senkte sich ein Vorhang ... vor diesem romantischen Geschehen.

„JA, MEINE HERREN“, hörten wir plötzlich eine Stimme, „wir sind zu einem Busineß geworden. Der Wilde Westen bietet eine herrliche Saison. Sie können Distanzritte zu den Gletschern machen, durch tausend Wälder, zu unheimlich herrlichen Seen. Sie können mit unseren bewährten Kanus auf Lachsfang gehen. Lachse fangen, das heißt Abenteuer erleben. Da hat sich nichts geändert. Keine Zeit, keine Technik kann ihnen etwas anhaben. Sie müssen nur die einsamsten Gegenden aufsuchen. Sie können auch noch Trapper und Prärieläufer sehen, wenn Sie Glück haben ... Und Bärenjäger und Männer, die auf die schönen silberblauen Felle der Füchse aus sind.

Sie können aber auch den ganzen Rummel der Zivilisation kennenlernen. Riesen-Luxushotels, wie das in Banff, inmitten unserer einstigen Jagdgründe, das Louise-Palast-Hotel mit seiner Wettspielarena. Dudelsackpfeifer spielen um einen Preis. Cowboys halten ein Rodeo, ein Mustangreiten, ab und schießen zum Gaudium der Zuschauer nach Tausenden von aufsteigenden Luftballons...

Wenn Sie etwas für Romantik übrighaben, können Sie für 50 Dollar ein einsames Bungalow im Wald mieten. Keine Angst vor der Primitivität. Es gibt Badezimmer, elektrisches Licht, einen elektrischen Küchenherd, auf dem Sie — wenn Sie dazu imstande sind — ein Pariser Pöulard grillen können oder eine Omelette Souffle backen. Sie können aber auch Bohnen mit Speck essen und unzählige sonderbare Blumen bewundern.

Nur müssen Sie vorsichtig sein in der Auswahl der Geschenke. So dürfen Sie Ihrer Tochter kein echt hirschledernes Indianerzelt schenken, in dem sie mit ihrer Freundin hausen will, um dem geheimnisvollen Ruf der Wildnis zu lauschen. Auf diesen hirschledernen Zeltblättern steht nämlich der Firmenname des großen Warenhauses, das der Vater der Freundin besitzt...

GLAUBEN SIE ES MIR, im Wilden Westen ist es auch heute noch herrlich. Irgendwo lebt er noch, euer Wilder Westen. Aber das erste Gesetz in den Staaten heißt Busineß. Das ist die Achse, um die sich alles dreht. Nicht das Geld, gut, es ist dabei. Aber das Geschäft, wissen Sie, das Geschäft bedeutet doch etwas anderes. Da sind Gedanken dabei, da ist Härte, und die Klugheit ist auch mit. Sie müssen aber auch Glück haben. Und Glück hat die Rothaut gehabt. Ich will es Ihnen beweisen. Wenn wir unser Land erobern ließen, es ist unsere Schuld. Wir sind ärgerlich, wenn wir Mitleid entdecken, Sentimentalität, große Worte über den Raub, Worte, die groß sind, aber keinen Inhalt haben. Wir haben erst spät gelernt, den Lebensweg des eingewanderten Volkes zu erkennen. Wir haben mit der neuen Regierung verhandelt. Wir haben klug verhandelt, denn wir waren schweigsam und haben Manitu vertraut. Ich könnte Ihnen viele Namen unserer Häuptlinge nennen, die mit den Regierungskommissionen um jeden Acre Boden verhandelt haben.

ES WAREN GRÜNDE, ES WAR ERDE — leer, mit dürren Gräsern, kaum so viel, um unsere Pferde auf diesen sandigen Steppen weiden lassen zu können. Nein, keine Prärien, grün, voll von den schönsten Blumen im

Frühling. Nichts... Und dennoch machten uns die Gründe reich. Lassen Sie es sich vom Weißen Adler erzählen, der zwischen 1926 und 1930 mit den Kommissionen unterhandelte, um das zugewiesene Land der Osaga in Nordoklahoma als Indianerterritorium in Besitz zu nehmen... Nicht ein einziges Korn wuchs im Sand. Lind dennoch war uns Manitu günstig gesinnt.

Das Gebiet wurde ölfündig, und bald strömten hunderte Millionen Dollar in das Territorium. Die schönsten und teuersten Automobile, Juwelen, Seide und Bungalows kamen die Straßen des Öls von überall her. Reichtum und Luxus versuchten, die Rothaut zu besiegen ...

Sehen Sie, da geschah etwas Merkwürdiges, etwas, von dem kaum jemand gesprochen oder darüber geschrieben hat.

Die Rothaut kämpfte auch gegen diese Feinde. Nicht alle, es gibt immer schwache Naturen. Es gibt immer Menschen, die nur Schlechtes tun können. Dieser Weiße Adler war einer unserer besten Häuptlinge. Er hat uns davon überzeugen können, daß Reichtum und Luxus den Menschen verweichlichen und unersättlich machen. Er hat viele Millionen Dollar sofort dafür verwendet, um seinen Brüdern Erziehung und Unterricht zu verschaffen. Er hat vieles getan. Er war ein Osaga. Er legte seine Federnkrone und seine Kleidung ab. Er trug stets die Friedenspfeife mit sich, .denn es gibt viel Kampf und Krieg auf dieser Welt, seitdem der Luxus und der Reichtum mit den Menschen spielen ...'. Es ist dumm zu sagen, .früher aßen wir Büffelfleisch — heute essen wir Rüben', auf der Erde zu hocken, ins Lagerfeuer zu starren und nichts zu tun. Früher gab es viele Millionen Büffel, wenn auch heute wieder Herden mit gut 15.000 Stück entdeckt wurden ... was bedeuten sie?

EINES ABER MÜSSEN SIE WISSEN: Auch heute lebt der Wilde Westen noch, und auch heute gibt es noch eine Sendung des Roten Mannes. Dann — wenn viele von uns in die einsamen Wälder ziehen und Luxus und Reichtum von sich abschütteln. Das ist ein Sieg in einem Kampf mit unsichtbaren Feinden ... Viel Glück!“

Mehr sagte der Häuptling Big Chief nicht, während er sich erhob und mit allen anderen zu den Wigwams ging...

Es war plötzlich einsam geworden ringsum. Wir fühlten uns verlassen und allein. Aus dem Nichts herauf stieg eine Sehnsucht. Big Chief hatte recht. Der Wilde Westen lebt noch! Vielleicht waren es die Häuptlinge in ihrer Kleidung mit ihren pompösen Federkronen, die eine Verbindung zu ihm aufrechterhielten und entschieden aufrechterhalten wollen. Aber dieser Verzicht auf alle Bequemlichkeit, auf Wohlstand und Luxus, von dem Big Chief gesprochen hatte... bedeutete er eine andere Seite dieser Welt? War das vielleicht etwas wie eine „Sendung des Roten Mannes“, uns einen Weg zu führen, fort von der Äußerlichkeit, zum inneren Leben? Hier im Wilden Westen? War nicht auch das eine Indianergeschichte von heute? Hatten diese Rothäute nicht eine große Vergangenheit, eine, die einen riesenhaften Kontinent wandelte? Und haben sie nicht immer noch etwas von ihrer Rasse, ihrer Natürlichkeit beibehalten, von ihrem Leben in der Natur? Nicht alle, gewiß, aber doch viele, wie jener, der hinter mir herschritt, unhörbar, in jenem Warenhaus in der Vierunddreißigsten Straße, wo ich mir, weil es dort „billige Zigarettentage“ gab, eine Stange Camel kaufte, die um einen Dollar billiger waren, und plötzlich schweigend neben mir stand, beinahe erschreckend unerwartet. Er nickte freundlich. „Sie sind ... Pawhu“, sagte er. „Ein großer Name“, nickte ich, aber da schritt die Rothaut schon weiter, unhörbar, mit dem Gang eines Fährtensuchers in der Prärie. Auch heute noch.

Jawohl, auch heute begegnen einander die Generationen wie eh und je.

GENAU DASSELBE SAGTE SHELLY, den ich später traf, und mit dem ich ein langes Stück Weges ritt, denn sein Revier war groß. Diese Burschen von der Mounted Police sind vielleicht die letzten großen Abenteurer im Wilden Westen von Kanada, „die Menschenfänger“, auch sie haben eine fundierte Entstehungsgeschichte.

„Big Chief“, nickte Shelly, „ein 'guter Name. Ein reicher Mann, Öl-millionär. Eine kluge Rothaut. Sicher ist er wieder auf einem Ritt in die Wälder.. .“

„Was will er dort?“ fragte ich.

„Ohne Geld die Schönheit der Welt genießen. Hören Sie?“

Wir lauschten. Wir waren einen Saumweg emporgeritten. Dumpf und unerwartet wehten einige dunkle Klänge zu uns herüber. Dump — dump — dumping — dummmp.

Das ging eine Weile so. Ich blickte suchend um mich. Nichts als Wälder, hohes Farn, Moos, Blumen mit tiefblauen Kelchen, Lupinen und andere wieder, brennend gelbe Dolden.

Ich blickte Shelly fragend an.

„Ja“, sagte der Sergeant in seiner blauen Hose und roten Bluse, „auch das ist Wilder Westen von heute. Nicht die Saison, die sich seiner Romantik bemächtigt hat, deren Erfolge wechseln, bis sie vielleicht einmal eine Zeitlang aufhören. Dann steigt er im Wert. Wer such ihn heute? Wer schätzt ihn? Hören Sie...“

„Musik. Ein Volksfest — oder eine Polizeiübung...?“

„Nein, mein Freund. Das sind Trommeln. Die Ursprache der Wildnis, wenn Sie wollen, auch des Wilden Westens...“

„Verstehen Sie, was die Trommeln sagen?“

„Es wird zu einem Tanzfest gerufen. Sie müssen wissen, daß einige indianische Mädchen, kaum siebzehnjährige Prinzessinnen, große Erfolge im amerikanischen Ballett haben; eine von ihnen ist sogar Primaballerina ...“

„Können wir zuschauen, Shelly?“

„Ich werde mich hüten“, lachte der Sergeant. „Da schätze ich die Red-skins zu sehr. Wir haben Order, die Indianer bei ihren Festlichkeiten nicht zu stören. Das ist das Mindeste, da wir ihnen gegenüber tun können. Eine Selbstverständlichkeit. Außerdem habe ich viele Freunde unter den Redskins. Und Freundschaft mit einem vollblütigen Indianer, das will heutzutage etwas Besonderes bedeuten ...“

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