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Im Kampf mit Meer und Flüssen

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Jeder weiß, daß er Großbritannien in Gegenwart eines Schotten nicht kurzweg England nennen darf, schon gar nicht Deutschland im Beisein eines Bayern Preußen. Auch einen Niederländer sollte man nicht schlechthin Holländer nennen. Man könnte einen Friesen, Utrechter oder Limburger vor sich haben, der dadurch gekränkt würde. Holland ist nur eine von elf niederländischen Provinzen. Allerdings die weitaus größte unter ihnen mit der Hauptstadt Amsterdam, der Residenz Den Haag und der weltbedeutenden Hafenstadt Rotterdam. Die Bezeichnung Niederlande ist einer der wenigen Staatennamen, der nicht andeutet, welches Volk hier lebt, sondern lediglich, wie das Land beschaffen ist

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Bis auf einige Landteile östlich von Utrecht und der Provinz Limburg im äußersten Süden ist das Land flach wie eine Scheibe. Fast die Hälfte des ganzen Landes liegt tiefer als der Meeresspiegel. Nur hohe Sanddünen, die der nie abreißende Wind angehäuft hat, und künstlich angelegte Deiche entlang der Küste schützen das Land davor, von der erstbesten Springflut verschluckt zu werden. Gleich hinter den Dünen liegt das Geestland: ein lockerer Boden aus Torf und Sand, der sieli vorzüglich für den Gartenbau eignet. Nicht zu Unrecht wird dieses Land der Garten Westeuropas genannt. Versorgen doch die Niederlande die Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich, die Schweiz und sogar die Vereinigten Staaten mit Frühgemüse, Obst und Blumen. Der Gemüsebau nimmt hier 45.000 Hektar Land ein. 2700, Hektar liegen davon unter Glas, wo sechsmal im Jahr geerntet werden kann. Zwischen Den Haag und Rotterdam gibt es ganze Glasbezirke: ein Meer von Treibhäusern! Infolge des milden Wetters kann jedoch selbst auf freiem Feld früher geerntet werden als in anderen Ländern. Der Wert der niederländischen Gemüseernte beläuft sich auf 300 Millionen Gulden. Auch der Obstbau ist bedeutend, besonders die Apfelernte. Neben Gemüse und Obst nimmt im Gartenbau noch die Blumenzwiebelzucht einen führenden Platz ein. Im Laufe der Jahrhunderte züchteten die Niederlande 7000 verschiedene Tulpensorten, von denen 800 handelsüblich sind. Zwischen April und Mai kommen zehntausende Touristen in die Gegend von Harlem und Leiden, um die berauschende Farbenpracht der unübersehbaren Tulpenfelder zu bewundern. Dieser Fremdenstrom zur Blumenblüte bringt dem Land allein 200 Millionen Gulden ein. Die Ausfuhr an Schnittblumen: neben Tulpen auch andere Zwiebelgewächse, wie Narzissen, Gladiolen und Hyazinthen, bringen dagegen nur 20 Millionen Gulden ein. Der weitaus größte Teil der Blumen wird vorzeitig gepflückt und vermodert. Denn es geht hier in erster Linie um die Blumenzwiebeln, die in alle Welt versandt werden und einen Exportwert von 180 Millionen Gulden schaffen. Dieses hochkult;vierte Geestland macht das Königreich der Niederlande bei allen Gesprächen um einen gemeinsamen Markt zu einem schwierigen Partner. Die Niederländer kämpfen energisch gegen einen europäischen Teilmarkt — das heißt gegen einen freien Aus tausch von Industriegütern unter Ausschluß der landwirtschaftlichen Erzeugung. Denn die Niederländer haben nicht nur den ertragreichsten Gartenbau der Welt, sie haben auch die konkurrenzfähigste Landwirtschaft.

Das Reich der niederländischen Landwirte schließt sich gleich dem Geestland an. Es ist das eigentlich typische Gebiet der Niederlande — die riesigen Weideflächen mit ihren schwarzweiß gefleckten Kuhherden. Hier weiden drei Millionen Kühe! Früher war dieses Gebiet von Mooren und Seen durchsetzt, die erst eingedeicht und durch Windmühlenkraft trockengelegt werden mußten. (Heute sind die meisten Windmühlen nur noch Schaustücke für den Fremdenverkehr, ihre Arbeit wird durch elektrische' Pumpstationen getan.) Das größte Eindeichungsprojekt der Welt wird gegenwärtig in den Niederlanden durchgeführt: die Trockenlegung der Zuidersee, die eine Größe von 19.000 Hektar hatte. Genau vor 30 Jahren wurde die See durch einen 30 Kilometer langen Damm vom Meer abgetrennt. Dadurch entstand plötzlich im Innern des Landes ein Süßwassersee, der nicht dem Gezeitenwechsel untersteht und bei anhaltender Dürre die umliegenden Felder bewässern kann, Zwei große Polder (Landteile) konnten der ehemaligen Zu’dersee schon entrissen werden: das Wieringer-Meer-Polder von 200 Quadratkilometer Größe und das Nordostpolder von 480 Quadratkilometer Fläche. Drei weitere Polder von insgesamt 1530 Quadratkilometer müssen noch eingedeicht und trockengelegt werden. Dann ist eine neue niederländische Provinz entstanden, die Lebensraum für 5,0.000 Menschen gibt: Flevoland, mit einem noch zu bauenden Hauptort von 40.000 Einwohnern, vier weiteren Städten und 45 Dörfern. In einem Jahrhundert wird sich das geographische Gesicht der Niederlande gründlich verändert haben. Wo heute im Norden die friesischen Nordseeinseln sind und im Süden die seeländischen Inseln, soll eine gerade Küste entstehen, an der Deiche dem Meer eine neue Grenze setzen.

Doch nicht nur vor dem Meer müssen sich die Niederländer schützen, auch vor den Flüssen, die meist höher liegen als das Land und nur durch Deiche gehalten werden. Dieses Netz von Flüssen und Kanälen ist in den Niederlanden so dicht, daß es ein weit besserer Verkehrsweg ist als Schiene und Straße. Allein die schiffbaren Kanäle erreichen eine Gesamtlänge von 5800 Kilometer: zwanzigmal so lang wie das ganze Land an seiner ausgedehntesten Stelle. Dieses Kanalnetz wird noch verdichtet durch viele kleine Kanäle, die alle Felder und Gärten umspülen. Durch diese fein verästelten Wasserwege kann über die Hälfte aller Güter durch Flußschiffe transportiert werden. An die 17.000 Flußschiffe pendeln fortwährend mit Frachten durch das Land und bringen jährlich 48 Millionen Tonnen Güter nach Deutschland und Belgien. Jedes zweite Rheinschiff fährt unter holländischer Flagge. Denn das Handeltreiben liegt dem Niederländer im Blut. Im 17. Jahrhundert besaß dieses Volk die stärkste Hochseeflotte der Welt. Auch heute steht man noch mit einer Handelstonnage von 3,76 Millionen Bruttoregistertonnen an siebenter Stelle auf der Weltrangliste. Der Rotterdamer Hafen ist der drittgrößte Hafen der Welt. Jährlich laufen hier 18.000 Seeschiffe ein, die gelöscht und geladen werden müssen. Der Amsterdamer Hafen, der heute nur noch durch einen Kanal mit dem Meer verbunden ist, nimmt jährlich 5500 Schiffe auf. Wo es eine rege Schiffahrt gibt, da blüht natürlich auch der Schiffsbau. Es gibt über 200 Schiffswerften. Der größte Teil der Produktion wird exportiert.

Es ist auch durchaus nicht so, daß die Niederlande ein reines Agrarland wären. Von hundert Niederländern verdienen nur 16 ihr Brot als Bauer, Gärtner oder Fischer. Das ist erstaunlich bei der gewaltigen landwirtschaftlichen Produktion und dem reichen Fischfang, der jährlich eine Viertelmillion Fische, meist Heringe, auf den Markt bringt. Was dem Deutschen nämlich seine Würstchenbude ist, das ist dem Holländer sein Fischstand. Dagegen arbeiten von 100 Niederländern 13 im Handel und im Verkehr und 40 in der Industrie und im Gewerbe. Ueberall entstehen neue Fabriken. Immer mehr Niederländer müssen in die Industrie gehen. Denn dieses Land ist das dichtbesiedeltste der Welt. Es ist ein Wettlauf mit der sehr schnell wachsenden Bevölkerung, die jährlich um 150.000 Menschen zunimmt. Es können gar nicht schnell genug neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Darum müssen jährlich 30.000 Niederländer ihre Heimat verlassen. Durch den Kinderreichtum, vor allem im katholischen Süden des Landes, ist die Regierung gezwungen, eine aktive Auswanderungspolitik zu betreiben. Sie muß ständig für die Auswanderung werben und finanzschwachen Leuten eine Auswanderungshilfe gewähren. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, von einer solchen Politik einmal abzukommen: indem man dem Meer immer wieder neue landwirtschaftliche Anbauflächen entreißt und indem man durch eine aktive Europapolitik einen größeren Absatzmarkt für die niederländischen Erzeugnisse und Aibeiten zu schaffen versucht.

So kommt es, daß Holland in der Europapolitik keine Opposition kennt. Das ganze politische und kulturelle Leben der Niederlande wird von drei Kräften getragen: den katholischen Kräften, die durch ihre Einheit am einflußreichsten sind, den evangelischen Kräften und den sozialistischen Kräften. — Die gemäßigte sozialistische Partei der Arbeit ist mit 34 Sitzen im Parlament, der Zweiten Kammer, die stärkste Partei. Ihr folgt mit 33 Sitzen die Katholische Volkspartei, die dagegen im Repräsentantenhaus,der Ersten Kammer, die meisten Vertreter hat. Die evangelischen Kräfte zerfallen in drei Parteien. In der Innenpolitik stehen sich die Sozialisten und Katholiken am nächsten, weil sie beide für einen Staatsdiri gismus eintraten. Diese staatliche Lenkung der Produktion und der Güterverteilung mußte in den letzten zwei Jahren zugunsten einer Europapolitik mehr und mehr abgebaut werden. Durch diese Liberalisierung zahlten die Niederländer einen hohen Tribut für Europa. Denn man büßte die niedrigen Löhne und Preise ein, um sich an das hohe Preisniveau Belgiens und Luxemburgs anzupassen, mit denen man in die .Wirtschaftsunion Benelux treten will. Die Benelux, die als Zollunion bereits besteht, bedeutet für die Niederländer einen erweiterten Absatzmarkt von elf auf zwanzig Millionen Verbraucher. Auch ein gemeinsamer europäischer Markt könnte den Niederländern manche Probleme lösen helfen, wenn er uneingeschränkt gemacht würde. Bei einer ausschließlichen Liberalisierung der Industrieproduktion hätten die Niederländer allerdings zum Teil einen schweren Stand. Denn die meisten Rohstoffe müssen weit hergeholt werden. Das einzige, was in ausreichenden Mengen vorkommt, ist Salz. Die Steinkohlengruben in Limburg fördern zwar jährlich elf Millionen Tonnen Kohle, die sich vorzüglich verkoken läßt. Hausbrandkohle muß jedoch aus dem Ruhrgebiet eingeführt werden. An Erdöl gewinnt man in Friesland 900.000 Tonnen, etwa ein Drittel des Eigenbedarfs. Dagegen importiert man fast zehn Millionen Tonnen Rohöl, das in großen Raffinerien bei Rotterdam verarbeitet und wieder exportiert wird. Die Niederlande besitzen auch eine eigene Stahlindustrie am Seehafen Ymuiden: drei Hochöfen, fünf Stahlwerke und eine Anzahl Walzwerke. Jedes Gramm Erz muß jedoch eingeführt werden. Stark ausgebaut ist auch das Netz der niederländischen Luftfahrtgesellschaft KLM, die 85 Flugzeuge besitzt, darunter 44 viermotorige, die zusammen 104 Städte in 68 Ländern anfliegen.

Der Niederländer ist fleißig, doch er ist kein Roboter. Er weiß vor allem ein kleines Plauschstündchen bei einer Tasse Kaffee zu schätzen. Das Familienleben hat noch einen guten Zusammenhalt. Man kann das selbst beobachten, wenn man durch die Straßen geht, weil die großen Fenster nirgendwo durch Gardinen verhängt werden, so daß man unwillkürlich Zuschauer des Familienlebens wird. Das Kino hat in diesem Land auch noch keinen beherrschenden Platz. Durchschnittlich geht man nur sechsmal jährlich in ein Lichtspieltheater. Theateraufführungen und Konzerte sind dagegen weit besser besucht. Merkwürdig ist auch, daß der Niederländer seine Wohnung entweder mit antiken Möbeln einrichtet oder mit Supermodernen. Traditionsgeist und Aufgeschlossenheit für das Neue sind kennzeichnend für die Menschen der Niederlande.

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