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Die geplante Provinz

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Schon vor dem Weltkrieg, aber schließlich durch den Verlust so gut wie aller Kolonien und die Heimkehr vieler Kolonisten bestimmt, mußten die Niederlande versuchen, für die Rückkehrer neue Erwerbschancen und, angesichts der Überfüllung des Mutterlandes selbst (vor allem nach dem zweiten Weltkrieg), überhaupt neue Lebensräume zu gewinnen. Dazu kam noch das starke natürliche' Anwachsen der Bevölkerung des Mutterlandes. Von 1900 bis 1960 hat sich die niederländische Bevölkerung einschließlich der Rückwanderer von fünf Millionen auf nicht weniger als 11,5 Millionen vermehrt.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes liegen in der Gegenwart eindeutig in einer Expansion und Konzentration nach innen. Mineralische Rohstoffe fehlen weitgehend. Daher muß sich die Industrie auf die Veredelung importierter Rohstoffe beschränken. Eine zweite Erwerbschance ist die Landwirtschaft, die derzeit die Hälfte der Exportgüter liefert. Die Anbaumethoden waren jedoch nach dem zweiten Weltkrieg an einer vorläufigen Grenze der Intensivierung angelangt. Daher blieb nur das für die Niederlande schon traditionelle Bemühen, ohne Waffengewalt neues Land zu gewinnen, und dies im eigenen Hoheitsbereich.

Diese Maßnahmen der Landgewinnung werden in der Gegenwart aber nicht allein, wie ehedem, ökonomisch und durch den Bevölkerungsdruck bestimmt, sondern auch durch das Fehlen eines ausreichenden Erholungsraumes angesichts der Verstädterung. Die Städte der Niederlande haben heute kein ausreichendes Vorfeld für die Freizeitgestaltung ihrer Bürger, so daß diese vielfach zum Wochenende gleichsam auf eine Erholung im Inneren ihrer Häuser rückverwiesen sind.

Zu allem kommt noch der permanente Landverlust an das Meer. Die Erfolgsrechnung im Kampf um den Boden von 1200 bis 1900 ist negativ: Landgewinn durch Trokkenlegung an der Seeküste 380.400 ha und von Seen 140.000 ha (zusammen 520.400 ha), Landverlust an das Meer 564.400 ha!

Das Neuland, das man zu gewinn nen versuchte, lag und liegt vor den(Küsten der Niederlande im Bereich eines Binnenmeeres, der Zuidersee, das eine Fläche von 400.000 ha bedeckt, von der man bemüht ist, 220.000 ha durch Trockenlegung und Eindeichung nutzbar zu machen. Dadurch soll die Fläche der Niederlande um sieben Prozent vermehrt werden, wobei die gewonnene Bodenfläche relativ wertvoller ist als die bisher kultivierte Fläche. Neben dem Zuiderseeprojekt gibt es noch ein zweites Projekt (derzeit in der ersten Etappe): eine Absperrung im Südwesten der Niederlande (Deltaprojekt).

Im Zuiderseeprojekt ist die Bildung von fünf Poldern vorgesehen, von denen derzeit drei fertig und bereits besiedelt sind. Im NO-Polder wurden 48.000 ha Land gewonnen, der östliche Flevoland-Polder umfaßt 54.000 ha, der Wieringermeer-Polder 20.000 ha, der projektierte Flevoland-Polder 40.000 ha und der Markerwaard 62.000 ha. Der einzelne Polder ist nicht nur eine dem Meer durch Eindeichung und Austrocknung abgerungene Insel, sondern an sich bereits ein permanenter Betrieb, da er laufend betreut, das heißt vor allem entwässert werden muß.

Die Finanzierung der Gewinnung von Neuland erfolgte durchweg aus öffentlichen Mitteln. Der Staat behält auch das Eigentum am neugewonnenen Land, um auf diese Weise, ungehindert durch andere individuelle Eigentumsgebrauchsrechte, agrarwissensehaftlich experimentieren und eine ganze Wirtschaftsregion in allen Darstellungsformen perfekt planen zu können.

In der ersten Etappe nach der Urbarmachung wurde das gewonnene Land drei Jahre hindurch unmittelbar von staatlichen Funktionären bewirtschaftet. Erst dann offerierte der Staat das Neuland Pachtwilligen. Den Pachtwerbern wurden langfristige Verträge geboten und gleichzeitig jeweils ein Bauernhof, der auch im Eigentum des Staates bleibt, zur Verfügung gestellt.

Die Pachtverträge haben durch die zugesicherte Gültigkeitsdauer den Charakter eines Patrimoniums, da das Besitzrecht (des Pächters) faktisch eine dem Eigentum ähnliche Wirkung hat, je länger es genutzt werden kann.

Das Interesse war groß: Je Hof bewarben sich 20 Pachtwillige.

Mit Abgabe des Besitzrechtes hat der Staat nicht jeden Einfluß auf die Art der wirtschaftlichen Nutzung des Neulandes aufgegeben, sondern sich vorbehalten, festzulegen, was und in welcher Weise angebaut werden soll. Die Wirtschaftsführung auf den Höfen stellt daher eine eigenartige Kombination von Planwirtschaft nach westlichen Vorstellungen und einzelwirtschaftlicher Initiative dar, der ein angemessener Wirkungsspielraum vorgegeben ist. Das kommerzialisierte Enderträgnis des Bodens gehört dagegen dem Pächter. Der Pächter-Bauer ist eine Art Unternehmer, der zwar am Boden nur ein Eigentumsgebrauchsrecht hat, jedoch Eigentümer der Betriebsmittel und des erzielten Produktes ist.

Das Experiment ist nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch sozial interessant. Um Spekulationen vorzubeugen, gab es nur eine Möglichkeit, den angestrebten gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen Erfolg zu sichern: eine geplante Kolonisation.

Vorweg festgelegt ist nicht nur die den einzelnen Pächtern zur Verfügung stehende Bodenkapazität; geplant sind nicht allein die Methode der Bebauung, sondern auch die sozialen Prozesse. Im allgemeinen wurden die Siedlungen vorweg mit einer Einwohnerzahl von 1000 bis 1500 geplant, wobei auch die Entfernung zwischen den einzelnen Bauernhöfen eine bestimmte Rolle spielte.

Bei Anlage der Siedlung mußte die Regierung auch dafür sorgen, daß den Siedlern ein Minimum an erforderlichen sozialen Dienstleistungen zur Verfügung stand. weshalb auch eine Art von Berufsplanung erforderlich war. Neben dem Leitberuf des Bauern wurde eine Reihe von Angehörigen subsidiärer Berufe angesiedelt.

Nach Wiener Berechnung sollen übrigens bei einer Einwohnerzahl von je 3000 Bewohnern etwa 18 bis 19 Betriebe des nahversorgenden Gewerbes vorhanden sein (zum Beispiel Schuhmacher und Fleischhauer). Bei mehr Bewohnern kommen noch verschiedene Gewerbearten hinzu. Die Zentrale des Dienstleistungsdargebotes auf dem Polder ist das Dorf, als Agglomeration von Wohnhäusern, während die Bauernhöfe weit voneinander entfernt liegen. Daneben gibt es einzelne Städte, die Versorgungsdienste auf einer höheren Ebene leisten.

Die Planung ging jedoch über die Konstitution bestimmter gesellschaftlicher Lebenschancen hinaus. In den Niederlanden gibt es einen Konfessionsproporz, der sich historisch entwickelt hat und darüber hinaus auch noch eine Art von stammhaftem Gefüge indiziert, da Region und Konfession sich in den meisten Teilen in den Niederlanden weitgehend decken.

Durch die Neulandgewinnung wurde nun eine neue Provinz als Kleingesellschaft errichtet, die aus allen Teilen des Landes besiedelt werden sollte, aus den katholischen ebenso wie aus den protestantischen, aber auch von den Bekenntnislosen. Man ging daher davon aus, daß auch die Besiedlung auf einem Polder der Konfessionszusammensetzung im Lande einigermaßen entsprechen sollte, um so mehr, als der Proporz als Chance verstanden wurde, unangemessene Privilegierungen einzelner Gruppen vorweg zu verhindern. Der Startproporz war daher gleichsam: 1:1:1.

Auf dem NO-Polder ergab sich in den Schulen folgender Konfessionsproporz, der sich allmählich auf Grund der nach Konfessionen unterschiedlichen Geburtenhäufigkeit nach eigenen Gesetzen entwickelte:

Aus der Übersicht geht hervor, daß die Gruppe der Bekenntnislosen ihre Position nicht halten konnte, sondern 18 Prozent ihres relativen Bestandes verloren hat, wogegen die evangelische Gruppe etwa 7 Prozent und die katholische Gruppe nicht weniger als 37 Prozent zu gewinnen vermochten. Ursprünglich gab es ungefähr doppelt so viele protestantische Kinder als katholische. 1960 zeigt sich bereits eine Relation von 4:3. In der Tatsache, daß Kinder in nichtchristlichen Schulen von etwa einem Drittel des Bestandes auf etwas mehr als ein Viertel abgesunken sind, dokumentiert sich auch eine Art Rechristianisierung von der Basis aus.

Wachstum und Wandlung

Nun entwickelt sich also die Bevölkerung vom Start weg nach eigenen Lebensgesetzen und verändert die Proportion in Konfession und Berufen. Anfänglich waren beispielsweise unter den neuen Bewohnern auch wenige ältere Personen, so daß sich die eigenartige Bevölkerungspyramide der Pioniervölker ergab: Die Zahl der jungen Menschen war im Ursprung sehr groß. Nun entsteht wegen der relativ starken Geburtenhäufigkeit allmählich das Problem der weichenden Erben. Ein Teil der Kinder bleibt im bäuerlichen Bereich im Haus der Eltern als mithelfende Angehörige, ein Teil muß jedoch das Elternhaus verlassen, da es am Pachtvermögen keine Erbteilung geben kann. Im Rahmen der Berufsplanung war zwar vorweg festgelegt gewesen, wie viele nichtbäuerliche Berufstätige angesiedelt werden sollten. Durch den Zugang aus dem Bereich der weichenden Erben ändert sich jedoch die Berufsstruktur des Ursprunges, die selbstverständlich nicht zementiert werden konnte.

Gleiches wie für die Berufsstruktur gilt für die Bekenntnisproportion. Das Wachstum der Bevölkerung vollzieht sich nicht in einer Proportion von 1:1:1. Die Folge ist — wie sich schon in der Verteilung der Schülerzahlen und in deren Entwicklung nach Schultypen anzeigt —, daß sich allmählich andere Konfessionsproportionen herausbilden werden.

Die starken Geburtszahlen auf dem Polder führen schließlich auch dazu, daß die Arbeitsbeschaffung für die etwa 50 Prozent jungen Menschen ein ernstes Problem zu werden beginnt, da die Berufschancen zumindest im agrarischen Bereich eindeutig begrenzt sind.

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