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Das zehnte Bundesland

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Vor achtzig Jahren wurde in der Zeit großer wirtschaftlicher Not das Wort geprägt: „Dränieren oder hungern!“. Durch die Entwässerung nasser oder versumpfter Flächen sollte neues Acker- und Wiesenland gewonnen werden, um im eigenen Lande mehr Nahrungsmittel erzeugen zu können.

Dieses Wort gilt auch heute.

Nur um das nackte Leben auf der 1550-Kalorien-Basis halbwegs zu sichern, müssen wir 1947 um 1200 Millionen Schilling Lebensmittel einführen, wobei an Transportkosten rund 100 Millionen Schilling und an Substanzverlust auf dem Transportweg rund 30 Millionen Schilling, insgesamt also 130 Millionen Schilling glatt verlorengehen. Für die normale Versorgungsbasis von 3000 Kalorien aber, die erst ein gesundes, leistungs-und widerstandsfähiges Volk garantiert, wären rund 2000 Millionen Schilling erforderlich.

Man wird sagen: diese hohe Lebensmitteleinfuhr ist nur eine vorübergehende Notwendigkeit; im Jahre 1937 hat sich Österreich zum Beispiel mit Molkereiprodukten, Zucker und Kartoffeln zur Gänze selbst versorgt, mit- Gerste und sonstigen Körnerfrüchten zu neun Zehntel, mit Roggen und Hülsenfrüchten etwa zu drei Viertel und mit Fleisch und Fett ebenfalls zu einem hohen Prozentsatz. Lediglich von Weizen' konnte im Inlande nur ein Drittel aufgebracht werden. Und dies bei einer Versorgungsquote von 2500 Kalorien; also noch nicht auf der erwünschten 3000-Kalorien-Basis.

Gewiß ist unsere vordringlichste Aufgabe, durch landwirtschaftliche Maßnahmen sobald aus möglich wieder den Stand von 1937 zu erreichen. Darüber hinaus aber muß unser Streben dahin gehen, so weit als möglich von der eigenen Scholle zu leben. Denn die Meinung wäre irrig, daß die Lebe n s m i 11 e 1 e i n f u h r durch die Ausfuhr gewerblich-industrieller Produkte ausgeglichen werden könnte. Der Ausgleich ist wohl zahlungsbilanzmäßig, nie aber dem volkswirtschaftlichen Werte nach möglich.

Deshalb ist es ein Gebot der Selbsterhaltung des Staates, die landwirtschaftliche Produktion mit allen Mitteln zu fördern.

Da erhebt sich die Frage: Können wir die L e be n s m i 11 e 1 p r o d u k t i o n in dem erforderlichen Ausmaß steigern? Haben wir den guten Boden, das erforderliche Klima? Haben wir denn überhaupt die notwendige Fläche? W i r h a b e n s i e ! Wer mit offenen Augen durch das versumpfte Ennstal oder durch den nassen Pinzgau fährt, an den Riesenflächen der ungenutzten oberösterreichischen Moore vorüberkommt, wer von den Sandstürmen im verdürstenden Marchfeld oder von den Aus-

Wanderern in den Dürretälern Nordtirols weiß, wird dies glauben. Das Bundesmini-stefrium für Land- und Forstwirtschaft ist eben dabei, Inventur zu machen. Nach dem Muster Tirols wird ein M e 1 i o r a t i o n s-kataster erstellt, der über die Flächen genau Auskunft geben wird, die schutzbedürftig sind, und über jene Flächen, die meliorationsbedürftig, das heißt infolge zu großer Feuchtigkeit entwässerungsbedürftig und infolge zu großer Trockenheit bewässerungsbedürftig sind. .Dieser Kataster wird erhärten, daß der Wasserbau geradezu eine Schicksalsfrage für Österreich ist. Innerhalb desselben nehmen die Meliorationen als unmittelbar produktionsfördernde Maßnahmen eine besondere Stellung ein. Denn wenn zum Beispiel im Herbst*' oder noch im Frühjahr ein Hektar Streuwiese entwässert und dann mit Kartoffeln bestellt wird, so bringt sie zur Ernte statt Streu bereits zusätzlich 20.000 bis 30.000 Kilogramm Kartoffel.

Und darum greifen wir das vor achtzig Jahren geprägte Wort: „Dränieren oder hungern!“ in der größten Notzeit unseres Vaterlandes wieder auf, erweitern es um die erforderlichen Bewässerungen und rufen: „Meliorieren oder hungern!“ Denn wir könnten es uns nicht leisten, für Lebensmittel jährlich Milliarden Schilling ins Ausland zu senden, und so bliebe also nichts anderes übrig, als weiterzuhungern. Das wollen wir aber nicht, und darum müssen wir die eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, müssen zur Selbsthilfe greifen, wie es eines aufrechten Volkes würdig ist.

Wie groß muß die Fläche sein, die wir zusätzlich brauchen, um unser Volk auf der 3000-Kalorien-Basis zu ernähren?

Eine kurze Zahlenübersicht über die Anbaufläche einiger wichtiger Produkte des Jahres 1937, den damit erreichten Versorgungssatz auf der 2500-Kalorien-Basis und die zur Erreichung einer Vollversorgung auf der 3000-Kalorien-Basis erforderliche Fläche soll hierüber Aufschluß geben:

Prozentsatz d. Erforderliche

Anbaufl. Versorgung Anbaufl auf

Produkt 1937 auf2500-KaU- der3000-Kal.-

ha Basis Basis v % ha

Weizen 250.000 32 rd. 500.000

Roggen 361.200 67 (> 300.000

Gerste 167.100 92 „ 6.000 Sonstige

Körnerfr. 365.300 92 „ 58.000

Hülsenfr. 13.400 75 „ 3.400

Kartoffeln 215.600 100 „ 43.100

Zuckerrüben 46.500 100 „ 8.000

Gemüse 22.400 95 „ 1.5C0

' rd. 920.000

Es wäre also eine zusätzliche Produktionsfläche von rund 92 0.0 00 ha erforderlich, um unsere Bevölkerung mit diesen Produkten aus der eigenen En*

Zeugung .voll zu versorgen.

Aus klimatischen Gründen werden wir die vorhandene Weizenfläche um höchstens 50.000 ha erweitern können. Weizen wird also immer einzuführen sein. Einschließlich der zusätzlichen Flächen für die übrigen Produkte benötigen wir daher rund 50.000 plus

420.009 = rund 470.000 ha zusätzlicher

■

Fläche.

Nach wiederholt vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft bekanntgegebenen Schätzungen, die durch den in Aufstellung begriffenen Meliorationskataster bestätigt oder richtiggestellt werden, haben wir.rund 500.000 ha entwässerungsbedürftige und rund 150.000 ha bewässerungsbedürftige, insgesamt somit 650.000 ha meliorationsbedürftige Fläche, das sind rund 15 Prozent der 4,4 Millionen ha landwirtschaftlich genützten Fläche oder rund 1000 Quadratmeter je Kopf der Bevölkerung. Diese Nährflächenreserve von 650.000 ha ist gewissermaßen ein neues Bundesland, und nicht einmal ein kleines, wenn man bedenkt, daß das kleinste Bundesland, Vorarlberg, 163.200 ha und das größte, Niederösterreich, 1,195.000 ha hat. Dieses neue Bundesland, „das zehnte Bundesland“, wie idi es nennen möchte, gilt es, in einem großen Friedenswerk zu erobern. Damit hat es Österreich in der Hand, mit Ausnahme von Weizen, seine Bevölkerung aus eigener Scholle voll zu ernähren!

Gewiß ist zunächst die Wiederinstandsetzung bestehender und durch den Krieg vernachlässigter Meliorationen vordringlidi! Daneben aber hat das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft im Verein mit den Ländern die Meliorationstätigkeit wieder in Schwung gebracht. Aber ohne großzügigen Plan gibt es keine Abhilfe. Das zeigt die Vergangenheit: Von 1868 bis 1937 wurden rund 110.000 ha entwässert; hievon bis 1919 rund 50.000 ha oder 1600 ha je Jahr, und von 1919 bis 1937 rund 60.000 ha oder 3300 ha je Jahr, also das doppelte Ausmaß. Hiebei weise das Jahr 1927 die Rekordzahl von 9000 ha auf. Zweifellos haben diese 60.000 ha einen ganz wesentlichen Anteil an der Produktionssteigerung in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Aber das bisherige Tempo reidit nicht aus!

In der um die Hälfte kleineren Schweiz mit rund 1,220.000 ha landwirtschaftlich genützter Fläche, das ist rund ein Viertel der österreichischen, wurden von 1885 bis 1937, also in 52 Jahren, rund 80.000 ha oder rund 1500 ha jährlidi melioriert; aber in den fünf Kriegsjahren von 1941 bis 1946 waren es 70.000 ha oder 14.000 ha je Jahr. Und . die Schweiz hat damit den Krieg ernährungsmäßig durchgehalten! Wir müssen Ernst machen mit unserem zehnten Bundesland, das ist unser kulturtechnisches Kalorienprogramm! Unser nächstes Ziel aber muß hiebei sein: Nach zwei bis drei Jahren Anlaufzeit durch fünf Jahre jährlich 2 0.0 00 ha, zusammen also 10 0.0 00 ha, zu meliorieren. Die Kleinanlagen, das sind Meliorationen bis zu 5 ha Ausmaß, werden hiebei eine besondere Rolle spielen.

Für die Entwässerungen ist das gesamte Baumaterial im Inlande, während für die Bewässerung derzeit noch Mangel an Rohren und maschinellen Einrichtungen besteht, dem aber über kurz oder lang abgeholfen wird. Die Arbeitskräfte sind vorhanden; man muß nur ihren Einsatz erwirken. Bei plan- und zweckmäßigem Einbau sind die erforderlichen 1 Baumaschinen aufzutreiben. Der Ämterapparat, Zivilingenieure und Bauunternehmen stehen zur Verfügung.

Das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft hat ein Wasserbautenförderungsgesetz vorgelegt, das der österreichischen Wasserwirtschaft und insbesondere auch dem kulturtechnischen Wasserbau weitere Entfaltungsmöglichkeiten bringt und die F i n a n-zierung der einschlägigen Arbeiten ermöglicht, soferne die Volksvertretung bereit ist, die erforderlichen Mittel sicherzustellen.

Einst hieß es: „Si vis pacem, para bellum“, Wer den Frieden will, rüste zum Kriege! Es muß doch in Gottes Namen endlidi einmal heißen: „Si vis pacem, para pacem!“ Wer den Frieden will, rüste zum Frieden! Mit der Unterzeichnung des Europaplanes hat sich Österreich verpflichtet, die größten Anstrengungen zu unternehmen, um seine Produktion zu erhöhen. Die landwirtschaftliche Produktion muß dabei an erster Stelle stehen. Wir Österreicher wollen es mit dem Wort des eidgenössischen Kulturingenieurs Oberstbrigadier Struby halten: „Boden ist Heimat und Bodenverbesserung ist Vaterlandsliebe der Tat!“ Und darum erobern wir in aufbauender Friedensarbeit:

das zehnte Bundesland!

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