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Wie viele Menschen kann Österreich ernähren?

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Der Nahrungsbedarf eines Landes ist unschwer zu berechnen, wenn man den Aufbau seiner Bevölkerung kennt. Man rechnet jede einzelne Altersklasse auf Bruchteile eines erwachsenen Mannes um und erhält auf diese Weise die Zahl der „Vollpersonen“ oder „Konsumeinheiten“. Je mehr Kinder und Jugendliche, je mehr Frauen prozentuell vorhanden sind, um so weniger Vollpersonen trifft es auf 100 Köpfe. Für Wien waren es vor dem Kriege 83, für ganz Österreich nur 78, bedingt durch den größeren Kinderreichtum der bäuerlichen Bevölkerung. Heute fehlt uns eine zureichende Gesamtstatistik, außerdem würde zu berücksichtigen sein, daß noch viele Landfremde zu ernähren sind, überdies bestehen auch sonst abnorme Verhältnisse. Man muß daher auf die Vorkriegswerte zurückgreifen. Kennt man die Zahl der Vollpersonen, so multipliziert man diese bei der Bedarfsberechnung mit den international anerkannten, in vielen Sitzungen des Völkerbundes durch Ernährungsphysiologen festgelegten Werten. Allerdings läßt sich eine Volksernährung nicht in solche internationale Standardwerte zwängen. Denn es gibt außerhalb dieser reichlich Spielraum, da sich jedes Volk nach seiner Eigenart, nach den örtlichen Produktionsverhältnissen und der gegebenen Möglichkeit der Lebensmittelbeschaffung ernährt. So verzehren zum. Beispiel Grönlandeskimos im Durchschnitt dreieinhalb Kilogramm Fleisch, aber wenig Fett im Tag, Wolgafischer zweieinhalb Kilogramm Fische, Japaner leben von Reis, Soja und Fisch, irische Landarbeitet fast nur von Kartoffeln, italienische Erdarbeiter von Po-lenta und ein wenig Käse, Fellachen hauptsächlich von Hirse und ungarische Arbeiter während der. Ernte von Schnaps, Speck und Maisbrot. Der deutsche Professor R ö s e brachte es sogar über sich, fast ein Jahr nur von Kartoffeln und Rüböl zu leben und doch stieg der mehr als 70jährige Herr noch auf den 4100 Meter hohen „Mönch“. Bei solchen, ganz verschiedenen Ernährungsweisen betrug die Eiweißzufuhr zwischen 25 und 700 Gramm pro Tag.

Man kann also nach ganz verschiedenen Rezepten leben. Demnach weichen auch die Meinungen über die anzustrebende Ernährung sehr voneinander ab. Der russische Vertreter im Internationalen Arbeitsamt in Genf verlangte zum Beispiel 140 Gramm Eiweiß pro Tag, der englische mehr Eiweiß im besonderen für den Arbeitslosen, und ebenso begehrten die Vertreter der geistig Tätigen für diese mehr Eiweiß wegen der Eigenart ihrer Beschäftigung. Der Völkerbund einigte sich auf 100 Gramm, indessen-, wissensdiaftlich 70 Gramm Eiweiß pro Tag, von dem die Hälfte tierisches Eiweiß sein sollte, noch als entsprechend angenommen werden. Vegetarier leben meist bei einer Zufuhr von, etwa 40 Gramm ausnutzbarem Eiweiß, was aber iinmer noch wesentlich mehr ist, als unsere Lebensmittel' karte bietet. Theoretisdi kann man wohl mit 20 Gramm Eiweiß pro Tag das Auslangen finden, wenn dieses vollwertig ist und sehr reichlich Nährwerte zur Verfügung stehen, .aber Grundlage einer Volksernährung kann eine solche geringe Menge nie sein. Man muß auch bei jeder Berechnung darüber im klaren sein, daß Eiweiß und Eiweiß ganz verschiedene Dinge sind und daß zum Beispiel das Eiweiß der Hülsenfrüchte nur zu einem Drittel als nutzbar in Rechnung gestellt werden darf. Ähnliches wie für die Deckung des Eiweißbedarfes gilt auch für die Deckung des Nährwertbedarfes. Wenn der Völkerbund 3100 Kalorien für die Vollperson forderte, so besteht auch da reichlicher Spielraum. Unsere glücklichen Nachbarn in der Schweiz leben bei etwa 4000 Kalorien pro Tag, die Schweden sogar auf einem noch höheren Standard und in England wurde vor ganz kurzer Zeit die Quote der rationierten Lebensmittel mit 2800 Kalorien pro Tag festgelegt, neben denen es noch viel im freien Handel zu kaufen gibt. Viele von uns leben nun schon seit geraumer Zeit mit 1000 bis 1200 Kalorien und so mußte das Volk das Fehlende aus der eigenen Körpersubstanz zuschießen, was an Gewichtsverlust, nach einer Überschlagsrechnung eine Zubuße, von rund 3000 Waggon Fett und einige Waggon Eiweiß bedeuten dürfte. Dadurch hat sich, weil ein gewichtsärmerer Mensch auch weniger zu essen. braucht, der Nahrungsbedarf des österreichischen Volkes um rund 2000 bis 3000 Millionen Kalorien vermindert.

Nach dem Gesagten kommt es also ganz darauf an, von welcher Bedarfsbasis ausgehend man rechnen wilL* Unterernährung ist aber keine Bedarfsbasis. Sie führt zu Minderwertigkeit, Anfälligkeit gegen Krankheiten, zu verminderter Arbeitsfähigkeit, Hungerkrankheiten, ja sogar zum Tod. Eine Erhöhung der Kindersterblichkeit und eine Zurrahme der Tuberkulose sind unausbleibliche Folgen; sie sprechen jeder modernen Volkshygiene Hohn.

Natürlich können wir nicht daran denken, so zu leben wie vor den Weltkriegen und und sogar noch vor zehn Jahren, als wir nach Österreich noch 500.000 Schweine, 55 Millionen Eier und sechs Millionen Stück totes und lebendes Geflügel jährlich einführten und jährlich 3,3 Millionen Meterzentner Fleisch verzehrten. Heute müssen wir jede Rechnung auf einer viel bescheideneren Grundlage aufbauen und dabei die Zusammenstellung der Nahrung so wählen, . daß sie —. wenn auch immerhin noch den Lebensgewohnheiten einigermaßen angepaßt ;— doch jene Erzeugnisse in den Vordergrund rückt, die auf eigener Scholle die größten Erträgnisse an Nährwerten zu liefern vermögen.

Von der heutigen Produktion s s t a t i s t i k kann man bei einer solch e.n Berechnung nicht ausgehen, weil die Verhältnisse vollkommen andere sind als vor dem Kriege und weil die Zahlen, die darüber vorliegen, unzureichend sind. Auch müssen wegen der schwankenden Ernteerträgnisse eine Reihe von Jahren zusammengefaßt werden. Es kann somit nur die Vorkriegsstatistik herangezogen werden. Doch auch dieses Ergebnis ist nur bedingt verwertbar, da die Anbau- und Erträgniswerte wegen Steuer-und Ablieferungsfurcht im allgemeinen zu nieder gewesen sein dürften. Wollte man aber aus den Bodenflächen, ohne Rücksicht auf die einbekannten Ergebnisse der Produktion, die möglichen Ertragszahlen berechnen, so ständen solche Zahlen doch nur auf dem Papier. Würde man zum Beispiel die Hälfte der Wiesen und Äcker nur mit Kartoffeln anbauen und alle die geernteten Kartoffel dem menschlichen Konsum zurechnen, so nv'ßte Österreich rund 14 Millionen Menschen ernähren können. Daß dies eine Utopie ist und ein Ding der Unmöglichkeit, ist selbstverständlich. Zudem muß man für die Gegenwart bedenken, daß die Böden heute gar nicht das leisten können, was sie geleistet haben, da es zur Bearbeitung an Arbeitskräften, an Bespannung, an landwirtschaftlichen Maschinen und vor allem seit Jahren an den erforderlichen Mengen von Kunstdüngern fehlt und die Böden zum Teil durch überspannte Leistung biologisch herabgewertet sind. Immerhin soll aber versucht werden, aus den Vorkriegsstatistikenein Bild über die Ernährungsmöglichkeit zu gewinnen. Gewiß sind die Ergebnisse der Vorkriegsstatistik nur mit einer gewissen Reserve auf die heutigen Verhältnisse anwendbar und doch vermögen sie immerhin ein aufschlußreiches Bild zu geben.

Österreich besaß bei einer Gesamtfläche von 8,4 Millionen Hektar rund zwei Millionen Hektar Ackerboden, eine Million Hektar Wiesen und 1,3 Millionen Hektar. Hutweiden und Alnen. Auf den Kopf der Bevölkerung trafen daher 0,68 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche, aber nur 0,3 Hektar Ackerland. Nimmt man nach dem. üblichen Ansatz an, daß ein Hektar für die Ernährung eines Menschen notwendig ist, würden wir viereinhalb Millionen Menschen aus eigenem Boden ernähren können und wären 2,2 Millionen durch Import zu ernähren. Bei dem großen Prozentsatz an Alpweiden und einmahdigen Wiesen dürfte dieser Ansatz ziemlich berechtigt sein. Aber auch dann, wenn man annehmen wollte, daß ein Hektar für die Ernährung einer Vollperson zulänglich sei, was bei der Überalterung unserer Bevölkerung sicher zu hoch gegriffen ist, wären immer noch 1,3 Millionen Menschen aus Einfuhr zu ernähren.

Ein anderer Weg führt über den Vergleich der Produktions- und der Handelsstatistik. Im Jahre 1935 betrug unsere Eigenproduktion 5,3 Billionen Kalorien, die Einfuhr 1,5 Billionen. Es müßten daher 22 Prozent aus Importen zugeschossen werden, somit wurden bei uns 1,4 Millionen Menschen aus Importen ernährt. Dies deckt sich mit dem Ergebnis, zu dem man gelangt, wenn man ein Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche pro Vollperson ansetzt. Aber diese zweite Rechnung ist darum wesentlich zu hoch gegriffen, weil die erhobene Eigenproduktion nur durch bedeutende Zusdiüsse an Einfuhren von Kraftfuttermittel und Kunstdünger zu erreichen waren. Diese fehlen uns heute; stellen wir die entsprechenden Werte, die man zusammen — nur um die Größenordnung zu zeigen — mit einem Bedarf an etwa 80.000 Waggons veranschlagen kann, in Rechnung, so gelangt man sicher zu keinem höheren Deckungswert als dem, wenn man ein Hektar pro Kopf als erforderliche Produktionsfläche ansetzt, daß also doch etwa 2,2 Millionen Menschen aus eingeführten Produkten zu ernähren blieben; allerdings ist dabei angenommen, daß es sich um eine behaglich auskömmliche Ernährung handelt, wie sie noch im alten

Österreich, vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus, bestand.

Durch Einstellen auf ein bescheidener Ernährungsniveau, das aber gesundheitlich immerhin noch vertretbar ist, kann es gelingen,

mindestens für ein bis eineinhalb Millionen Menschen im Inland mehr Nahrung zu erzeugen und dadurch das Deckungsverhältnis günstiger zu gestalten, wenn die Produktion entsprechend ausgestaltet und umgestellt wird.

Aber unzulänglich nieder wird dabei immer noch die E i w e i ß- und Fetterzeugung bleiben, die nur durch wesentliche Importe auf ein erträgliches Maß erhöht werden , kann. Wesentliches kann durch Steigerung des Hackfruchtbaues erzielt werden, der die höchsten Hektarerträge zu liefern vermag, sofern es die Arbeitskräfte und die Düngung ermöglichen, die geeigneten Böden voll auszunützen.

Wegen Unanbringlidhkeit des Zuckers wurde 1935 die Anbaufläche für Zuckerrüben um 20 Prozent verkleinert. Eine Erhöhung auf das Vorkriegsniveau würde Nährwert für 200.000 Menschen liefern. Der Durchschnittsertrag an Kartoffeln war mit 125 Zentner pro Hektar ausgewiesen. Er ist sicher auf 2 00 Zentner pro Hektar zu steigern, ohne mehr an Wiese und Weide in Anspruch zu nehmen. Das allein würde ein Plus von 800.000 Millionen Kalorien, also Nährwert für 800.000 Menschen, ergeben. Da von den 15 Millionen Meterzentner der Kartoffeln eigener Ernte nur 5.5 Millionen verzehrt wurden und unser Kartoffelkonsum nur etwa ein Drittel jenes pro Kopf betrug, der für Deutschland, Polen, Rußland und anderen die Norm ist, so können wir die erforderlichen Kartoffeln nicht nur selbst erzeugen, sondern auch verzehren. Die bedeutende Erhöhung der Anbauflächen und die Zunahme des Kartoffelkonsums hat sich durch die Not der Zeit,in der Tat auch bereits einzustellen begonnen. Auch dem Mangel an Zusatzfutter kann durch vermehrten Anbau von Futterrübe, von der vor dem Krieg nur 12 Millionen Meterzentner verfüttert wurden, einigermaßen abgeholfen werden. Wenn wir natürlich auch nicht mit Rekorderträgen an Getreide und an Milch rechnen können wie etwa Dänemark, das bis zu 40 Zentner Getreide pro Hektar erntet, während unsere Durchschnittsernte nur 16,5 Zentner pro Hektar beträgt, und wenn die berühmte englische , Kuh und die berühmte Kuh „Bella“ des Bundespräsidenten Hainisch über 10.000 Liter Jahresmelke gaben oder eine dänische Kuh 8.8 Kilogramm Milchfett liefert, so ist es doch denkbar, durch die Heranziehung jener Böden in den Alpen, die kaum mehr als das Saatgut an Getreide liefern, zum Kartoffelanbau wesentlich mehr an Nährwert aus dem Boden zu gewinnen. Ebenso muß es möglich sein, durdi Ausschaltung minderleistungsfähigen Milchviehs die Milchleistung auf eine Jahresmelke im Durchschnitt auf 2500 Liter zu bringen. Hiezu ist der Wiederaufbau und die Hebung des Milchviehstandes durch leistungsfähige Zuchttiere die erste Voraussetzung. Durch diese Erhöhung des Milchertrages würden allein weitere 120.000 Millionen Kalorien gewonnen werden können und wäre eine weitere Deckung für 120.000 Menschen an erforderlichen Nährwerten gegeben.

Durch die Ertragssteigerung bei den Kartoffeln und bei der Milchproduktion würde die stark darniederliegende Eiweißquote unserer Ernährung um zehn Gramm vollwertig einzusetzendes Eiweiß, also um ein ganzes Drittel, erhöht werden können. Sicher wäre die Schafhaltung auf das Doppelte zu steigern und auf 500.000 Schafsdllachtungen pro Jahr zu bringen; dadurch würde ein weiteres Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr beigesteuert, wozu noch der Gewinn an Schafkäse käme, von dem wir vor dem Kriege 400.00 Kilogramm importierten, eine Menge, die wir leidit selbst erzeugen könnten. Die Milchproduktionserhöhung würde zudem einen Zuwachs an 76.000 Zentner Fett und damit mehr als ein halbes Dekagramm Fettzubuße pro Tag zusteuern.

Immer wird aber die Zukunft erfordern, daß sich unsere Ernährung nicht nach Behagen und Geschmack einstellen darf und daß ein gewisser Gemeinsinn durchgreifen muß, in dem die Selbstsucht sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen haben wird. Auf eine rein autarke Se1bstdeckung seines Nahrungsbedürfn i s ses kann Österreich zufolge der klimatischen Verhältnisse und wegen der begrenzten Leistungsfähigkeit seiner landwirtschaftlich nutzbaren Flächen nie rechnen. Aber auch darum ist reine Autarkie nicht möglich und wünschenswert, weil die Industrie und der Handel Auslandsprodukte beziehen und Industrieerzeugnisse exportieren müssen, wofür wir unseren Nachbarn Überschüsse an Lebensmitteln abnehmen können.

Auf den ersten Blick schiene eine zwangsweise Durchführung einer Planwirtschaft, besonders eine zwangsweise Einflußnahme auf Viehhaltung und Anbau der Weg zu einer möglichst ausgiebigen Selbstversorgung. Wohl kann und muß der Konsum einer Planwirtschaft unterworfen werden, für die Produktion ist eine solche Zwangswirtschaft aber vollkommen von der Hand zu weisen. Nur Aufklärung und Anleitung zu rationellster Wirtschaft und die staatliche Unterstützung der Produktion in der Beschaffung der landwirtschaftlichen Geräte, Kunstdünger und eine entsprechende Preispolitik, die dem Landwirt auch den entsprechenden Ertrag für seine mühevolle, sorgenreiche Arbeit bietet, werden zum Ziele führen. Wie viele Menschen Österreich wird ernähren können, wird immer nur durch die freiwillige Arbeit des Landwirtes entschieden werden. ■Jedenfalls liegt aber eine Deckung über 80 Prozent des Bedarfes — abgesehen von der Deckung des Eiweiß- und Fetterfordernisses einer zulänglichen Ernährung — im Bereiche des möglichen, wenn man die gegenwärtige Einwohnerzahl und die gegenwärtigen Grenzen Österreichs der Berechnung zugrunde legt.

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