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Die internationale Arbeitsteilung

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Zur optimalen Auswertung der eigenen Produktionsgrundlagen gehört jedoch die Auswertung unserer Äcker, Weidegründe und Wälder ebenso wie die unserer Wasserkräfte, Erdölfelder und Erzvorkommen.

Die Arbeitsteilung ist zweifellos ein Motor # des Fortschritts. Die internationale Arbeitsteilung ist aber noch nirgends so weit gediehen, daß die Staaten auf die Ausnützung ihrer eigenen Energiequellen und Rohstoffvorkommen oder gar auf ihre eigene Nahrungsmittelerzeugung verzichten.

Die Theorie des „Laissez faire“, wonach jeweils auf dem billigsten Markt gekauft und auf dem teuersten verkauft werden soll, ist keine allgemein akzeptable Kalkulationsgrundlage. Sie vernachlässigt zum Beispiel schon den Preis, den die Welternährungswirtschaft für eine Agrarproduktion zu bezahlen hat, die den Boden ausbeutet, statt ihn zu verbessern. Sie vernachlässigt erst recht den Preis der nationalen Sicherheit, den ein Land ohne Landwirtschaft zu bezahlen hat, wenn es durch politische Erpressung oder Kriegshandlungen von seinen Ver-gorgungsquellen abgeschnitten ist.

Großbritannien, das klassische Nahrungsmitteleinfuhrland Europas, konnte sich vor dem zweiten Weltkrieg nur zu einem Drittel selbst ernähren und wendet heute gewaltige Summen auf, um wenigstens eine fünfzigprozentige Selbstversorgung aufrechtzuerhalten. In eine Rentabilitätsrechnung der englischen Nahrungsmittelversorgung in diesem Jahrhundert müßten aber auch die Aufwendungen für die Kriegs- und Handelsflotte und deren Verluste in zwei Weltkriegen zu einem erheblichen Teil einkalkuliert werden.

Österreich hat am Ende zweier Weltkriege die bittere Erfahrung des Nahrungsmittelmangels machen müssen. Im Juli 1918 konnten nur noch 41 Prozent der rationierten Lebensmittelmengen tatsächlich ausgegeben werden. 1944 erhielt der Normalverbraucher 1850 Kalorien pro Tag und Ende 1945 noch immer nicht mehr als 1550. Die UNRRA-Lieferungen der Nachkriegszeit konzentrierten sich deshalb zu 77 Prozent auf Nahrungsmittel.

Nach dem ersten Weltkrieg erschien die Selbstversorgung in der von ihren bisherigen Bezugsquellen abgeschnittenen Alpenrepublik noch als Utopie. In den zwanziger Jahren konnte Österreich nur 29 Prozent seines Weizenbedarfes, 30 Prozent bis 40 Prozent seines Zuckerbedarfes, 32 Prozent seines Schweinefleisch- und 71 Prozent seines Rindfleischbedarfes selbst decken.

In den letzten vier Jahren ihres Bestandes konnte die Erste Republik bereits 72 Prozent ihres Ernäh-rungsverbrauches aus der heimischen Erzeugung decken. Die Zweite Republik konnte die Selbstversorgung bis auf 87 Prozent im Jahre 1961/62 steigern. Zwei Drittel der Weltbevölkerung würden sich glücklich schätzen, eine derart bedarfsdeckende Lebensmittelversorgung aus heimischer Erzeugung zu besitzen.

In Österreich selbst wird dieser hohe Selbstversorgungsgrad keineswegs so hoch eingeschätzt, wie er es verdienen würde. Das hängt zum Teil mit der Konsumentenmentalität in der „Gesellschaft im Überfluß“ zusammen: Grundnahrungsmittel besitzen ebenso wie Heizmaterial oder einfache Kleidung geringeres soziales Prestige, sie repräsentieren „nur“ das zum Leben Notwendige; Kraftfahrzeuge, Fernsehgeräte und Genußmittel besitzen dagegen das höhere soziale Prestige des Beneidetwerdens um das, was sich nicht jeder leisten kann. Diese Problematik wird an anderer Stelle noch näher zu untersuchen sein.

Die Geringschätzung des hohen Selbstversorgungsgrades ergibt sich aber auch aus einer Fehleinschätzung der internationalen Lage. Nicht selten hört man die Meinung, in Friedenszeiten könne man ja die Nahrungsmittel dort kaufen, wo man sie am billigsten bekommt, und in einem dritten Weltkrieg würde

die Menschheit ohnehin kollektiven Selbstmord begehen. Dabei verschließt man die Augen vor folgenden Tatsachen:

• Schon in Friedenszeiten besteht ein Weltdefizit an Nahrungsmitteln. Um den Hunger in der Welt zu stillen, müßten um 50 Prozent mehr Getreide, um 70 Prozent mehr Fleisch und um 75 Prozent mehr Milch erzeugt werden.

• Schon in Friedenszeiten müssen Länder wie China mit seinen 714 Millionen Einwohnern, die Indische Union mit ihren 438 Millionen Einwohnern oder die Sowjetunion mit ihren 221 Millionen Einwohnern die in den USA, Kanada oder Australien vorhandenen regionalen Uberschüsse aufkaufen oder geschenkt erhalten, um ein chronisches oder durch Mißernten verursachtes Nahrungsmitteldefizit in ihren Ländern zu decken.

• Schon in Friedenszeiten können für ein Land ohne eigene Nahrungsmittelproduktion durch Mißernten, Naturkatastrophen oder Streiks in den Lieferländern Versorgungsschwierigkeiten eintreten.

• Die sogenannten Friedenszeiten seit 1945 verdienen diese Bezeichnung nur vom Standpunkt Österreichs und auch da nur mit Einschränkung. Während der Berliner Blockade, während des Koreakrieges, während der Revolution in Ungarn und zur Zeit des Suezkonfliktes, während der Errichtung der Berliner Mauer und des Baues von Raketenabschußrampen auf Kuba hätte sich ein Land ohne eigene Nahrungsmittelproduktion kaum mit Vorräten eindecken können.

• Viel aktueller als ein mit Atomwaffen ausgetragener Weltkrieg sind lokale und mit konventionellen Waffen ausgetragene Konflikte. Neun Jahre lang war Indochina, acht Jahre lang Algerien und drei Jahre lang Korea Kriegsschauplatz. Allein diese Kriege forderten mehr Menschenopfer als die beiden im zweiten Weltkrieg abgeworfenen Atombomben. Allein im Jahre 1964 kam es in Südvietnam, im Kongo und in Zypern zu regelrechten Kriegshandlungen.

• Österreich hat als neutrales Land nur dann die Chance, sich aus solchen Konflikten herauszuhalten, wenn es nicht schon ohne Waffengewalt in die Knie gezwungen werden kann. Ohne eigene Nahrungsmittelversorgung aber könnten wir, ohne daß die Weltöffentlichkeit durch Grenzverletzungen oder Kriegshandlungen alarmiert würde, allein schon durch die Blockierung von Lieferungen oder Zufahrtswegen unter Druck gesetzt werden.

• Österreich besitzt weder einen Hochseehafen und eine Hochseeflotte noch Nachbarländer, die Nahrungsmittelüberschüsse erzeugen. Ungarn, dessen Getreideernte vor dem Krieg 2,9 Millionen Tonnen erreichte, erzielte seine bisher beste Ernte 1961 mit 2,2 Millionen Tonnen und mußte 1963 selbst 400.000 Tonnen Getreide einführen. Die Schweiz als einziger neutraler Nachbarstaat besitzt mit 70 Prozent einen erheblich geringeren Selbstversorgungsgrad als Österreich.

Zwischen den Extremen eines allgemeinen Weltfriedens und eines atomaren Weltkrieges liegt also ein breites Spektrum von Möglichkeiten, auf die ein kleines und neutrales Binnenland wie Österreich im Interesse seiner staatlichen Selbständigkeit und der Existenz seiner Bevölkerung vorbereitet sein muß.

In der benachbarten schweizerischen Eidgenossenschaft ist der Wehrwille ebenso wie die Bereitschaft zu einem möglichst hohen Grad der Selbstversorgung fest im Bewußtsein der Bevölkerung verankert. Weder die Schweiz noch Schweden hätten sich aus den beiden Weltkriegen heraushalten können, wenn sie sich nicht auf eine heimische Landwirtschaft und eine entsprechende Vorratswirtschaft hätten stützen können.

Ein Österreich ohne Landwirtschaft müßte nicht nur alljährlich Nahrungsmittel im Wert von rund 20 Milliarden Schilling zusätzlich einführen und durch zusätzliche Ausfuhren bezahlen, es müßte auch im Hinblick auf mögliche kurze und längere Unterbrechungen der Versorgung aus dem Ausland eine Vorratswirtschaft betreiben, die allfällige Preisvorteile beim Einkauf im Ausland wieder aufheben würde. Bei einer Eigenerzeugung von 690.000 Tonnen Weizen, 322.000 Tonnen Roggen, 2,090.000 Tonnen Zuk-kerrüben, 3,488.000 Tonnen Kartoffeln, 152.000 Tonnen Rindfleisch, 25.000 Tonnen Kalbfleisch, 276.000 Tonnen Schweinefleisch, 3,050.000 Tonnen Milch und 1561 Millionen Stück Eiern im Jahre 1963 werden auch die Größenordnungen des Transport- und Lagerungsproblems erkennbar, das in Krisen- oder Kriegszeiten bei einer reinen Fremdversorgung entstehen würde. Ganz zu schweigen von der Problematik, bei allgemeiner Verknappung der Nahrungsmittel entsprechend gefragte Austauschgüter in Krisenoder Kriegszeiten zu produzieren und zu exportieren.

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